Ausstiegsdroge für Nationalisten

Detlev Claussen reflektiert über die deutsche Gesellschaft

Von Anne NussbaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Nussbaum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nun wird es aber Zeit! Zweimal im Jahr wollen Detlev Claussen, Oskar Negt und Michael Werz, die Herausgeber der "Hannoverschen Schriften", einen Band zu aktuellen gesellschaftstheoretischen Diskussionen veröffentlichen. Seit Ende 2000 liegt nun der dritte Band vor. Im Unterschied zu den vorherigen stammt dieser von einem einzigen Autor. Detlev Claussen versammelt in "Aspekte der Alltagsreligion" gesellschaftskritische Beiträge im Zeichen der Kritischen Theorie, um deren Regeneration es ihm geht. Den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere der Präsenz der Massenmedien, wird dabei Rechnung getragen.

Wer sich der Informationsaufnahme nicht verschließt, wird hier deshalb auf nur allzu bekannte Themen stoßen: den Historikerstreit, die Goldhagen-Debatte, den Streit um die Walser-Rede. Feuilletonthemen aus den 80er und 90er Jahren, in deren Zuge viel Gesellschaftkritisches geäußert wurde. Claussen entlarvt scheinbar Revolutionäres, wobei er immer wieder auf Horkheimer und Adorno rekurriert.

Der Kritik unterzieht er nicht nur offensichtlich Andersdenkende wie Ernst Nolte, sondern auch Jürgen Habermas, der sich mit seiner Forderung nach einem Verfassungspatriotismus zu sehr an "den Gegner" angepasst habe. Claussen bezweifelt die Wirksamkeit eines solchen "Methadon-Programms" gegen die "reale Droge Nationalismus". Welche Blüten das Thema Patriotismus immer wieder treibt und wie aktuell Claussen im Grunde ist, konnte man erst kürzlich wieder den Stellungnahmen von Politkern entnehmen - initiiert durch einen Vorstoß Guido Westerwelles, den man im Sinne Claussens wohl eher als Rückstoß bezeichnen müsste.

Ein Drittel des Buches ist dem Thema Antisemitismus gewidmet. In seiner Analyse verquickt Claussen materialistische Gesellschaftstheorie und psychoanalytisch inspirierte Anthropologie. Dieses Verfahren führt zu einer Theorie, die durch ihre Knappheit komplexe gesellschaftliche und historische Zusammenhänge übergeht, obwohl Claussen sich gerade dagegen verwehrt - lehnt er doch die Vorstellung eines ewigen Antisemitismus im Sinne einer anthropologischen Konstante ab. Dennoch: Ganz Europa wird hier über einen Kamm geschoren, die Ablösung von dem, was man gemeinhin Judenhass oder Antijudaismus nennt, durch den modernen Antisemitismus wird mit der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft verbunden.

"Der Antisemitismus ist in den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen verankert. Der ökonomische Prozess verlangt Triebverzicht oder zumindest unlustvollen Triebaufschub von den gesellschaftlichen Individuen, den sie nicht unter Umgehung des Tötungstabus verkürzen dürfen. Die fremde Warenwelt erinnert vor jedem Tauschakt an diese unlustvolle Wirklichkeit. In der vorbürgerlichen europäischen Gesellschaft fand der Tausch nur am Rand des gesellschaftlichen Geschehens, nur in Ausnahmenfällen statt und wurde mit den Juden identifiziert. In der bürgerlichen Gesellschaft wird der Mensch durch Tauschakte vergesellschaftet, orientiert sich aber weiterhin an der Sozialisierung durch unmittelbare persönliche Beziehungen.

Das subjektive Meinen entspricht der Unmittelbarkeit vorökonomischen Begehrens; der unpersönliche Tauschakt wird in persönliche Beziehungen rückübersetzt; als vermittelnde Instanz fungiert im falschen Bewusstsein nicht das Geld, sondern der Jude. Der marginale vorbürgerliche Judenhass wird in der bürgerlichen Gesellschaft an den zentralen ökonomischen Mechanismus gekoppelt: Die bürgerliche Gesellschaft wird zur antisemitischen Gesellschaft par excellence."

Die Schwächen solcher Erklärungsmuster sind offensichtlich: Sie ignorieren das Phänomen des Kommunismusvorwurfes gegen Juden. Außerdem wird der Antisemitismus dadurch, dass er im System, in den "gesellschaftlichen Bedingungen", begründet liegt, zum Normalzustand erklärt, von dem man sich nur durch Aufklärung lösen kann. Darin liegt auch die Gefahr einer Rechtfertigung.

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Detlev Claussen: Aspekte der Alltagsreligion. Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen.
Verlag Neue Kritik, Frankfurt 2000.
150 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3801503496

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