Die Realität ist Scheißdreck

Tobias O. Meißner stürzt seine Romanhelden in virtuelle Stahlgewitter

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tobias O. Meißner hat ein gewisses Gespür für Themen. Sein erster Roman "Starfish Rules", 1997 erschienen, war ein patchworkartiges Gebilde aus Film Noir, Hard Boiled-Krimi, Comic-Strip und Pulp-Literatur, das in eine apokalyptische Katastrophe mündete. Genau richtig zum Fin-de-siècle. "HalbEngel" hieß der zweite Roman des 1967 geborenen Berliner Autors, in dem es um das Leben eines mythisierten Popstars à la Kurt Cobain ging - klischeehaft und sprachlich an die schlimmsten Vergehen von Rockjournalisten gemahnend. "Todestag", letzten Herbst in die Buchläden gekommen, beschwor angesichts der Harmlosigkeit in der neuesten deutschen Literatur eine politische Dimension. Meißner stellte darin einen Kanzlerattentäter in den Mittelpunkt. Der "Verhörroman" wurde allerdings so jenseits aller psychologischen Raffinesse ausgeführt, dass er vor dem hohen Gericht der Literaturkritik keine Gnade fand.

Weil der Autor ein fleißiger und sehr produktiver ist, beschert er uns nun schon wieder ein Buch. Jetzt ist der Cyberspace dran und nach Pulp-, Pop- und Polit-Roman das Genre Science-Fiction. Die Berliner Festwochen und der Eichborn Verlag sind daran nicht ganz unschuldig. Sie animierten Autoren im vorletzten Jahr zum Verfassen von "Science-Fiction"-Geschichten. Insgesamt sieben Texte wurden dann in Perry-Rhodan-Heftchen-Format in einen Schuber gepackt und unter dem Titel "Countdown läuft" auf den Markt gebracht. Das wäre nicht weiter aufgefallen, doch Tobias O. Meißner, einer der glorreichen Sieben, hat seinen Beitrag zu einem Roman ausgearbeitet und ebenfalls bei Eichborn Berlin veröffentlicht. Aber handelt es sich bei "Neverwake" tatsächlich um einen Roman?

Das ist eine Frage, die ich nicht dogmatisch beantworten, aber durchaus vorsichtig verneinen will. Meißners Buch jedenfalls enthält ein Glossar, einen Lobgesang aufs virtuelle Zeitalter, einen fingierten kulturessayistischen Zeitungsbeitrag und zwei längere Erzählungen. Angesiedelt sind diese Bauteile zu einem Roman am Beginn des 21. Jahrhunderts im Milieu professioneller Computerspieler, die sich "Virts" nennen. Was früher einmal unter Volksvergnügungs-Gesichtspunkten die Fußball-Bundesliga war, ist nun die V-League: verschiedene Klassen, in denen Spieler ihre virtuellen Kampfmaschinen aufeinander hetzen. Die Massen strömen zu den Spielstätten, wie sie es immer schon taten, und bejubeln ihre Lieblingsfiguren: "Die Kämpfer waren die eigentlichen Stars, nicht die Spieler, die sie bedienten."

Otis Esch ist einer dieser Spieler. Mit seinen 32 Jahren ist er der Lothar Matthäus unter den ehrgeizigen Jungspunden. Es reicht nur noch zum besseren Drittliga-Sparringspartner für die wirklichen Stars der Szene. Eines Tages reißt ihn ein Auftrag aus seiner täglichen Routine: Der ehemals bedeutende Virt Laurence Tader ist beim Test eines neuen, noch nie dagewesenen Spiels in den Weiten der virtuellen Welten verloren gegangen, und Otis soll ihn wiederfinden. Seit Tagen bewegt Tader sich wie in Trance in den fremden Räumen, längst ist er ins Koma gefallen und muss künstlich ernährt werden, seine Hand an der Computertastatur scheint Befehlen des Unterbewusstseins zu folgen. Er hat das Ideal des Virts erreicht: Neverwake, der eskapistische Zustand permanenten Schlummerns und kompletter Bedürfnislosigkeit, die völlige Entsagung körperlichen Begehrens - "NEVERWAKE ist die vorherrschende geisteshaltung des einundzwanzigsten jahrhunderts".

In der anderen Erzählung kämpfen sich zwei aufstrebende Kids durch virtuelle Stahlgewitter. Die Spieler wissen sehr genau, dass im Virtuellen zwar der permanente Kriegszustand herrscht, dieses aber doch die bessere Alternative darstellt. "Die Realität ist Scheißdreck", meint einer der Gameboys. "Da gibt es keine Regeln."

In Tobias O. Meißners Buch - diesem Zitatenschrottplatz aus alten Science-Fiction-Filmen - kämpfen nurmehr dreidimensionale Stellvertreter auf einer Benutzeroberfläche gegeneinander. Reaktionszeit und Intuition bestimmen über Sieg oder Niederlage. Das gedächtnislose, auf Sekundenbruchteile zusammengeschrumpfte Jetzt wird zur bestimmenden Daseinsform im Techno-Land. Erinnerung und Reflexion erweisen sich dagegen als Phänomene einer überholten Epoche. Das Archaische feiert fröhliche Urständ. Nicht umsonst unterscheiden sich die von Meißner beschriebenen Cyberspace-Fights mit ihrem enthusiastischen Publikum, das "vor Ergriffenheit" trampelt, wenn "virtuelle Innereien" gegen Monitore klatschen, nur graduell von der Faszination bei Hahnen- oder Gladiatorenkämpfen. Elektrifizierung erzeugt Simplifizierung - so ließe sich das auf einen Nenner bringen.

Natürlich möchte Meißner, wie jeder Science-Fiction-Schreiber, von unserer Gegenwart erzählen, die nur ein paar Mausklicks von der Zukunft entfernt liegt. Und tatsächlich trifft er eine aktuelle Grundstimmung. Aber das Erzählen ist hier zugleich auch das Problem: "Neverwake" klingt stellenweise, als wäre es eine zweitklassige Übersetzung eines drittklassigen amerikanischen Actionromans. Der ganze Aufwand, den Meißner mit seiner erfundenen Nomenklatur einer Cyberspielliga betreibt, läuft ins Leere. Die Auflösung von Realität in Virtualität wird mehr behauptet als beschrieben, die Poetisierung einer Pseudo-Fach-Sprache bleibt hinter der Poesie der "Uffs" und "Puffs" und "Pengs" von Science-Fiction-Comics weit zurück: "Hektisch rührten Eschs Finger auf den Controllern, aber entweder war der Stun Factor eines solchen Treffers enorm hoch, oder die Namgalies rührte mindestens ebenso effektiv dagegen an." Die Geschwindigkeit, die gerade in solchen Passagen evoziert werden soll, wird immer wieder von der angestrengten Terminologie gedrosselt. Meißner schleppt seine Helden erzählerisch über die virtuellen Schlachtfelder - eine bemühte Nacherzählung einer, zugegeben, mit herkömmlichen Mitteln nicht zu fassenden Bilder- und Wahrnehmungsflut.

Wenn die Virts ab und an in die Realität zurückgeworfen werden, haben sie etwas Holzschnittartiges. Diesen High-Tech-Figuren aus Fleisch und Blut nimmt man die Konflikte nicht ab, die ihnen die nihilistische Cyberspacewelt und der kulturindustrielle Konsumterror auferlegen sollen. Auch ihre Gefühle und Ängste haben etwas Aufgesetztes und Plattes: "Ich habe heute das Paradies gesehen, und es war die Hölle", sagt Otis Esch nach seiner Rückkehr aus fernen Computergalaxien. Dieses grob Modellhafte ist möglicherweise eine Konsequenz des gewählten Genres, eine Konsequenz auch der Lebensumstände von Meißners Helden, die tapfer den Weg zur Selbstabschaffung gehen und an "das große kosmische Wechselspiel von Nullen und Einsen" glauben - spannend allenfalls für eingefleischte Computer-Freaks. Aus "Neverwake", dem substantivierten "Niemals aufwachen", wird bei der Lektüre zunehmend ein Nevermind: "Mach dir nichts draus", aus diesem Roman.

Titelbild

Tobias O. Meißner: Neverwake. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
156 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3821806907

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