Die Rattenfänger von Swetlojar

Alexander Terechows russische Groteske

Von Andrea WolffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Wolff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Machthabenden der russischen Provinzstadt Swetlojar, was soviel wie "reines Licht" bedeutet, buhlen für ihre Stadt um die Aufnahme in den goldenen Ring, d. h. in die Gruppe der Städte, die als historische Touristenziele gute Einnahmen erzielen und damit die kommunale Kasse aufbessern. Zu diesem Zweck werden am Tag X sogar der russische Präsident und der UNO-Generalsekretär in dem Provinznest erwartet. Tatsächlich gehört Swetlojar - ursprünglich nach Stalins Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Jagoda benannt - aber zu den zahlreichen stalinistischen Städtegründungen der dreißiger Jahre. Die russische Tradition des Potemkinschen Dorfes wird folglich von den Machthabenden der Stadt mit neuem Leben gefüllt und die benötigte altrussische Vergangenheit skrupellos erfunden. So machen Archäologen erstaunliche historische Ausgrabungen und der Fluss Don wird kurzerhand nach Swetlojar umgeleitet. Eigens zu diesem Zweck engagierte Soldaten, Rentner und schwangere Frauen, die den Besuchern eine glückliche und wohlhabende Stadtbevölkerung vorspielen sollen, runden das Bild ab.

Alexander Terechows Roman "Rattenjagd" wurde 1995 in Russland veröffentlicht und ist der erste Roman des jungen russischen Autors, der auch ins Deutsche übersetzt wurde. Wie Andrej Kurkow und Viktor Pelewin gehört Terechow zu einer neuen Generation russischer Autoren, die sich in ihren Texten kritisch, aber zugleich formal innovativ mit der zeitgenössischen russischen Gesellschaft auseinandersetzen. So ist sein Roman "Rattenjagd" eine Parabel auf das heutige Russland.

Es könnte alles so schön sein, wäre da nicht die Rattenplage, die über Swetlojar hereinbricht. Im Speisesaal des Luxushotels, in dem der Präsident und der Generalsekretär tagen sollen, stürzen die Ratten in Scharen von der Decke. Die Plage breitet sich rasend schnell in der ganzen Stadt aus. Um entgegenzutreten, engagiert die Stadtverwaltung von Swetlojar zwei Moskauer Deratiseure. Beiden - einem jungen Mann, der als Ich-Erzähler zugleich das Sprachrohr des Romans ist, und seinem namenloser Kollegen "der Alte" - bleiben genau 17 Tage bis zur Ankunft des Präsidenten, um die Stadt von den tierischen Aggressoren zu befreien. Dabei werden die beiden Moskauer immer tiefer in das Gewirr von Lügen, Korruption und Kriminalität verstrickt, das die Stadt umgibt und müssen schließlich selbst um ihr Leben fürchten. So schafft es der Erzähler gerade noch, die Stadt am Tage X zu verlassen, bevor der Ort in einer apokalyptisch anmutenden Schluss-Szene in Dunkelheit und Schneetreiben untergeht. Dies alles geschieht im Spätsommer 1992 - also ein Jahr nach dem Moskauer Putsch und der Machtübernahme Boris Jelzins.

Alexander Terechow erzählt seine Parabel auf die zeitgenössische russische Gesellschaft in rasantem Tempo, das nicht zuletzt durch die Kapitelüberschriften - "Stunde X-17 Tage" bis hin zu "Stunde X" an einen Countdown erinnert, der den aufmerksamen Leser von Beginn an in eine "Endzeitstimmung" versetzt. Die Charaktere bleiben schemenhaft, zum Teil sogar namenlos. Menschen sind in Terechows Gesellschaftsentwurf austauschbar, was auch durch den immer schneller und immer sinnloser anmutenden Wechsel der Machthaber in Swetlojar symbolisiert wird. Auch Zeit und Raum verlieren im Verlauf des Romans immer mehr an Bedeutung, wodurch der Roman eine surreale Qualität erhält. So wechseln die Jahreszeiten mehrmals im Verlauf des Romans, obwohl sich die Handlung nur über 17 Tage im Spätsommer erstreckt. Nichts ist bei Terechow das, was es vorgibt zu sein. Diese Diskrepanz zwischen Schein und Sein, die das zentrale Thema des Romans ist, wird schon im ersten Absatz des Romans eingeführt, wo ein "Mann von durchaus reiferem Alter" beschrieben wird, der sich dann als der Ich-Erzähler selbst entlarvt. Kurz vor dem Tag X sieht sich der Erzähler bereits nicht mehr in der Lage, echten von falschem Schnee zu unterscheiden: "Der Schnee sah ganz echt aus, taute direkt auf der Hand, geruchslos. Schon wieder einer ihrer Tricks oder was?". Die ursprünglich als Jäger angetretenen Deratiseure werden zu Gejagten, die kommunale Verwaltung entpuppt sich als das eigentliche Rattennest der Stadt. Zum Schluss wissen weder Erzähler noch Leser, wer Ratte und wer Mensch bzw. wer Jäger und wer Gejagter ist.

Terechows "Rattenjagd" ist ein interessanter Roman in der Tradition von Gogols russischer Groteske, wenn auch nicht unbedingt ein Lesevergnügen. Trotz des insgesamt schnellen Tempi ist die Erzählung stellenweise langatmig und mit Details überfrachtet, die Prosa des Ich-Erzählers wirkt abgehackt und lädt nicht zu lustvoller Lektüre ein. Kurz gesagt: ein Roman, der in der aktuellen russischen Gegenwart und Erzähltradition verwurzelt ist. Die Frage, inwieweit das Buch auf dem deutschen Buchmarkt interessierte Leser finden wird, muss offen bleiben.

Titelbild

Alexander Terechow: Rattenjagd. Aus dem Russischen von Thomas Wiedling.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
415 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3406466079

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch