Der Schaffner im Mystery Train

Besser hören mit Greil Marcus' Rock'n'Roll-Enzyklika

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang 1994 besuchte ich ein Konzert von Mojo Nixon, einem wilden und verrückten Countrypunker aus Texas. Kurz zuvor war hierzulande ein neues Buch von Greil Marcus erschienen: "Dead Elvis". Es war das letzte Konzert von Mojo Nixons Europatournee und er und die Band waren in bester Stimmung. Ich lud ihn auf einen Bourbon ein und erzählte ihm, dass er und sein Song "Elvis is everywhere" Teil des neuen Buchs von Greil Marcus seien. Mojo grinste und berichtete im breitesten Slang von seiner Schwester, die den Bruder von Greil Marcus geheiratet habe - oder umgekehrt. Man kennt sich. Die Mekons, hob Mojo an, fragen sich bis heute, warum Greil Marcus mit seinen tiefschürfenden Analysen gerade sie zu einer seiner Lieblingsbands auserkoren habe. "Greil Marcus is everywhere", sagte er und bestellte sich einen neuen Bourbon.

Ein paar Bourbons, Bücher und Jahre später frage ich mich, ob das stimmt. Greil Marcus' letztes Buch "Basement Blues" handelt von Bob Dylan und "The Band" und deren nicht nur für die Jüngergemeinschaft legendären Sessions in Woodstock 1967. Die Songs drehten sich jahrelang als Bootlegs auf den Plattentellern, bevor 1975 unter dem Namen "Basement Tapes" endlich eine offizielle Doppel-LP erschien, für die seinerzeit Greil Marcus selbst die Liner notes schrieb. Knapp dreißig Jahre später ist er unterwegs im Auto und hört nichts anderes als die Wetterberichte und ein 5-CD-Set voll weiterer Bootleg-Aufnahmen aus den Basement Sessions. Und so, auf der Fahrt nach Montana, kommt ihm die Idee, dass die Songs in ihrer Gesamtheit wie eine Landkarte wirken: "Doch sollten sie tatsächlich eine Landkarte sein, welches Land, welche vergessene Mine beschreiben und fixieren sie dann? Sie können aber auch wie ein instinktives Experiment klingen oder wie ein Laboratorium: ein Laboratorium, in dem ein paar Monate lang gewisse fundamentale Grundzüge der kulturellen Sprache Amerikas wiedergefunden und wiedererfunden werden."

So beginnt eine Spurensuche, die weit in die Vergangenheit zurückführt, den Geist Thomas Jeffersons und Walt Whitmans beschwört, und in der Musik der "Anthology of American Folk History" des Schellackplattensammlers Harry Smith den Initiationsfunken für die kreativen Sessions in Bob Dylans Landhaus sieht. Wer sich für Vergessene interessiert, sollte sich die digitalisierte Smith-Collection, eine 6-CD-Box, besorgen. Es lohnt sich.

Bob Dylan, und das nur am Rande, hat sich beim Autor angeblich darüber beschwert, dass er in dem Buch gar nicht vorkomme. Das Buch endet - wie üblich bei Marcus - mit einer ausführlichen Biblio- und Diskographie. In Letzterer listet er alphabetisch geordnet und wissenschaftlich exakt alle jemals veröffentlichten Songs aus den Basement Sessions auf und versieht sie mit vergnüglichen Kommentaren und Anekdoten.

Auf der Suche nach den Grundzügen der kulturellen Sprache Amerikas befindet sich Marcus auch in seinem ersten, im Jahr 1976 erschienenen Buch "Mystery Train". Das Buch gilt als Klassiker, und manche sagen, es sei das beste Buch, das je über Rockmusik geschrieben worden sei. Der dem Musiker David Byrne zugeschriebene Spruch "Writing about music is like dancing about architecture" trifft bei Marcus nicht zu. Er kanns. Doch Greil Marcus ist nicht nur Seismograph der amerikanischen (Rock-)Kultur, sondern spätestens seit einem prägendenden Besuch des letzten Konzerts der britischen Punkband "Sex Pistols" in San Francisco auch ausgewiesener Experte europäischer Subkulturen.

Die Folge von Marcus' Begegnung mit dem "Sex Pistols"-Frontmann und selbsternannten Antichristen Johnny Rotten war Jahre später das Buch "Lipstick Traces". Marcus verfolgt dort aus seiner immer zugleich pragmatischen und pathetischen amerikanischen Sichtweise die Spuren der Dadaisten, der Situationisten und der Punkrocker. Die Sub- und Gegenkulturen des 20. Jahrhunderts werden zu einer Fundgrube des Scheiterns und der Erneuerung, und tatsächlich sah Hugo Ball Johnny Rotten verdammt ähnlich - respective umgekehrt. Die Verbindung von Punk und Dadaismus ist nicht neu, doch Greil Marcus präsentiert mit seinem detailreichen, gut recherchierten Buch einen Geschichtsentwurf, den man so in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht finden wird. Und er geht noch einen Schritt weiter, indem er Walter Benjamin und Theodor W. Adorno mit ins kenternde Boot holt. Kapitelüberschriften aus Adornos "Minima Moralia" wie "Bangemachen gilt nicht", "Schwarze Post", "Lämmergeier" oder "They, the people" hätten laut Marcus auch Titel von Punk-Singles sein können. "Man höre sich 'Metal Box' von PiL, Johnny Rottens Band nach den Sex Pistols an, lese dabei 'Minimia Moralia' und versuche herauszufinden, wo das eine aufhört und das andere anfängt."

Diesem in jeder Hinsicht erstaunlichen Buch folgte ein vielleicht noch besseres, der Sammelband "Im faschistischen Badezimmer", eine Zusammenstellung von Kolumnen aus den letzten zwanzig Jahren. Während man einerseits mit Punk vor allem Dosenbier trinkende Sozialhilfeempfänger in der Fußgängerzone, Dilettantismus und - bei entsprechenden Geschichtskenntnissen - noch das Jahr 1977 verbindet, hört Marcus im Punk mehr als Lärm und sieht Querverbindungen, die sonst wohl kaum gezogen werden. Wer sonst würde Bruce Springsteens hierzulande notorisch unterschätztes Folkalbum "Nebraska" als die wahrscheinlich leiseste Punk-Platte bezeichnen, die je produziert wurde? Und wer sonst versöhnt einleuchtend die Riot-Grrrls-Lärmcombo "Heavens to Betsy" mit einer Doo-Wop-Gruppe aus den fünfziger Jahren, den "Fleetwoods"? Das Buch selbst ist wüster Radau, eine unerschöpfliche Fundgrube an Beobachtungen, kreativen Ausschweifungen, Wortwitz, ätzenden Seitenhieben. Und zugleich ist es eine liebevolle Verklärung großer und kleiner Bands und Musiker. Und hier sind all die Texte über Bands, die irgendwann und irgendwo den Anspruch hatten, irgendwie Revolution zu machen, doch zumindest ihn, den Beobachter und Exegeten, verändert haben: Die "Mekons", "The Clash", "X" aus Los Angeles, die von ihm hoch verehrte Lora Logic, "Gang of Four", Elvis Costello, die "Au-Pairs" oder die Schweizer Frauenband "Liliput", über die er den schönen Satz schreibt: "Als Revolutionärinnen klangen sie immer so, als wollten sie den Spielplatz stürmen, nicht den Palast." Und wer sich jetzt denken mag, dass dies doch nur etwas für Spezialisten, für Eingeweihte sei - bei seinen Analysen von Songs und Platten, die man noch nicht so kennt, möchte man sofort in den nächsten Plattenladen laufen, um sie sich zu besorgen (was in Wirklichkeit nicht unbedingt einfach ist).

Punk hat den in den letztlich naiven, Flower-Power-getränkten sechziger Jahren sozialisierten Chronisten mehr geprägt, als sonst irgendetwas. Und Punk ist für ihn eben weit mehr als die berühmten drei Akkorde auf der ungestimmten Gitarre. Der Untertitel des Sammelbands lautet: "Punk unter Reagan, Thatcher und Kohl." Und auch wenn diese drei Politiker mittlerweile nicht mehr an der Macht sind, gilt Greil Marcus' Wort, dass sie sich niemals allein gelassen fühlen müssen. Die passenden Namen mag sich jeder selbst überlegen.

Greil Marcus 1995 in einem Interview mit Rainer Langhans (!): "Was wäre, wenn ein einziger Schrei genügte, um die Aura der Legitimität, die all diese Institutionen umgibt, zu zerstören? Versuchen wir's. Und plötzlich hört man diesen Schrei, andere stimmen ein - und tatsächlich, die Aura scheint zu bröckeln." Vielleicht hilft ein Kieksen auf der B-Seite einer obskuren Single weiter. Friede den Hütten.

Im Palast, genauer gesagt: in Graceland, hat Elvis residiert. Abgeschottet, in diese Welt nicht hineinpassend, unglücklich, ließ er sich das Schweißtuch in Las Vegas reichen und schluckte Tabletten. Bereits in "Mystery Train" hat sich Marcus mit dem King eingehend beschäftigt und dessen Interpretation des melancholischen Blues-Songs "Mystery Train" als Metapher für das eigentliche Amerika gewürdigt, das Amerika der Veränderungen. Doch sein Buch "Dead Elvis" steht im Zeichen des Punk. Vielleicht ist es kein Zufall, dass dessen Höhepunkt und Elvis' Tod 1977 zusammenfallen. Greil Marcus' Frage: Was ist eigentlich mit Elvis nach seinem Ableben passiert? ist keineswegs absurd. Er wurde leichenschänderisch als Elvis-Burger aufgegessen, bekannte Künstler nahmen sich (zu) huldvoll seiner Songs an, Callboys warben mit dem Slogan: "Jemals davon geträumt, mit Elvis zu bumsen, als er noch am Leben war?", und Helden des Untergrunds suchten seinen Geist in Tupelo, Bill Clinton beschwor ihn, um damit - so zumindest Greil Marcus - die entscheidenden Stimmen für seinen ersten Wahlsieg einzusammeln, während aus dem Hintergrund die amerikanische Boulevardpresse mit grandiosen Schlagzeilen wie: "Statue of Elvis found on Mars. Satellite beams back 'All shook up'" den Rhythmus angab. "Dead Elvis" ist vermutlich die einzige Biographie, die die Leb- und Wirkungszeit des Protagonisten einfach ignoriert. Ein großes Buch über einen noch größeren Künster, der nicht nur im Süden der USA in einem Atemzug mit Jesus genannt wird.

Bewusst ignoriert Greil Marcus einiges, was in der aktuellen Musik passiert. Natürlich weiß er das, es geht in unserem vor wichtigen und unwichtigen Veröffentlichungen überwuchernden Zeitalter auch gar nicht anders, und in einem seiner Texte spricht er dies an. Er schreibt in Anbetracht von Bruce Springsteen und dessen Tournee im Jahr 1980, im Jahr, in dem John Lennon erschossen wurde und die britische New Wave auf ihrem Höhepunkt war, dass es kein Zentrum des Rock'n'Roll mehr gäbe. Bruce Springsteen wisse darum, gleichwohl aber benehme er sich so, als ob es ein Zentrum des Rock'n'Roll geben müsse. Was für Springsteen gilt, gilt auch für Marcus. Er, der US-Amerikaner, nützt seinen rockhistorischen Standortvorteil und setzt sich ins heimliche Zentrum der Rock'n'Roll-Exegese. Doch ihn darauf zu beschränken, wäre zu kurz gegriffen: Wie Fritz Göttler einmal in der "Süddeutschen Zeitung" betonte, ist Greil Marcus auch Chronist und Historiker des 20. Jahrhunderts. Es gibt ja die Stimmen, die behaupten, dass POP einmal so wie der Manierismus oder die Romantik eine Epochenbezeichnung werden wird. Hier der Ratschlag an zukünftige Grübler, die nach den Lippenstiftspuren des 20. Jahrhunderts suchen: Schaut bei Greil Marcus nach!

Manchmal muss man im "Mülleimer der Geschichte", so der programmatische Titel eines weiteren Sammelbands, herumwühlen, um im Abfall das eigentlich Wesentliche zu finden. Bloß erstaunlich, dass in diesem Buch von Menschen, Werken und Themen die Rede ist, die man dort gar nicht vermutet hätte: Kolumnen über Camille Paglias "Masken der Sexualität", Eiszeitkunst, Peter Handke, Filme von Robert Altman, John Frankenheimer und Wim Wenders, Picassos Gemälde "Guernica", über Bill Clintons Seelenverwandtschaft zu Elvis und Umberto Ecos zweiten Roman "Das Foucaultsche Pendel". Aus der Rock'n'Roll-Sicht hat Camille Paglias Buch schwerwiegende Fehler, doch ihre Thesen - und das ist das Entscheidende - lassen sich auf den Rock'n'Roll anwenden. Also suchen wir nach dem Chtonischen in Gitarrensoli und in den Off-Beats von Hitparadensongs. Umberto Ecos Megaseller wird bei Marcus zur Sixties-Reminiszenz. In seltener Offenheit analysiert er dieses Buch, so dass der Eco-Leser endlich versteht, was er vorher nicht verstanden hat. Man findet Sätze bei Marcus, die vor allem im deutschsprachigen Raum kein beflissener Kritiker schreiben würde.

Greil Marcus, der in Berkely/Kalifornien Politologie studierte und dort einen Lehrauftrag hatte, ist Akademiker, Ironiker, Fan, Gefühlsmensch und Außenseiter in Personalunion. Auf Bildern sieht er gesund, verkopft und reif aus (auch sehr selbstbewusst). Er hat einen Rocksong geschrieben, der 1970 in der Version der "Masked Maurauders" auf Platz 123 der US-Charts kam und als "Beispiel für Obszönität im Äther" attackiert wurde. In einem Interview hat er von seinem Vorhaben erzählt, eine Sprechplatte namens "Big Ted Says No" herauszubringen. Mit Big Ted ist natürlich kein Geringerer als Adorno gemeint. Wir warten noch darauf. 1985 schrieb er eine Kurzgeschichte, eine Gewaltphantasie, deren Titel die B-Seite einer Single von "X-Ray-Spex ist": "Ich bin ein Klischee". Textprobe: "Ich schlitze dem Typen ein kleines Loch in den Hodensack, schiebe einen dünnen Plastikstrohhalm durch, puste so lange hinein, bis sein Skrotum aufgebläht ist wie ein Luftballon, verschließe den Einschnitt mit einem Leukoplaststreifen und dann lutsche ich ihm einen ab. Normalerweise lässt sie das für eine Weile verstummen. Dieser hier kotzt mich von oben bis unten voll."

Als 1977 Elvis starb, machte Greil Marcus Urlaub mit seiner Frau auf Hawaii. Als er vom Tod des King hörte, bestellte er sich erst mal einen Jack Daniels, der, wie die erste Single von Elvis, aus Tennessee stammt. Er genehmigt sich noch einen zweiten, doch dann war erst einmal Schluss. In seinem Kopf ratterte es bereits - betrunken ist er wohl selten, und wenn, dann nicht von Alkohol.

Vielleicht wäre Greil Marcus lieber Punkrocker - oder zumindest ein verzweifelter, trinkender Großstadtschriftsteller, der sich einer ominösen literarischen Bewegung anschließt. Zur Not auch noch Drehbuchschreiber. Aber er ist auf der anderen Seite geblieben, der Kritikerseite. Das Mysteriöse, Heimliche und Unbegreifbare kommt nicht aus ihm, also will er es beschreiben. Greil Marcus ist Exeget geworden - und so sucht er im unendlichen Song-Universum beharrlicher und auch unterhaltsamer als sonst jemand nach Subversivität, Sehnsüchten, Querverweisen, Größe im Scheitern und Lächerlichkeit im Erfolg. Man nennt ihn den Lehrstuhlanarchisten - und das ist gut so. Um auf Mojo Nixon zurückzukommen: Ist Greil Marcus überall? Nein, aber er ist dort, wo es drauf ankommt.

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Greil Marcus: Dead Elvis. Die Legende lebt!
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider.
Hannibal Verlag, Wien 1997.
315 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 385445144X

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Greil Marcus: Basement Blues. Bob Dylan und das alte, unheimliche Amerika.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider.
Rogner & Bernhard Verlag, Hamburg 1998.
300 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3807703179

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Greil Marcus: Der Mülleimer der Geschichte. Über die Gegenwart der Vergangeheit. Eine Zeitreise mit Bob Dylan, Wim Wenders, Susan Sonntag, John Wayne, Adolf Hitler und andere.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider.
Ullstein Taschenbuchverlag, München 1999.
395 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 354831225X

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Greil Marcus: Mystery Train. Rock`n`Roll und amerikanische Kultur.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Nikolaus Hansen und Fritz Schneider.
Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 1999.
560 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3548312136

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