Editorial

literaturkritik.de befaßt sich laufend mit einem der wichtigsten und vielleicht zur Zeit auch spannendsten Aspekt der Kulturwissenschaften: den Beziehungen zwischen den Geschlechtern, den kulturellen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Literatur trägt dazu bei, sie zu verfestigen oder zu verändern. In dieser Nummer ist daraus ein eigener Themenschwerpunkt geworden. Betreut und eingeleitet hat ihn Christine Kanz, Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Universität Marburg und redaktionelle Mitarbeiterin bei literaturkritik.de. Ihre in Kürze erscheinende Dissertation mit dem Titel "Angst und Geschlechterdifferenzen" wurde in Nr. 2/3 kurz vorgestellt.

Neben der Kategorie "Geschlecht" ist die des Alters für die kulturelle Selbstverständigung fundamental. Wie wichtig ist es zu wissen, ob ein Text von einer Frau oder einem Mann stammt und wie jung diese oder jener ist. Und wie stark ist ein Text vom Geschlecht oder vom Alter geprägt. Seit den neunziger Jahren gibt es eine neue Konjunktur von Generationenkonstrukten: die 68er, die 78er, die 89er Generation. Beginnt das Interesse an Generationendifferenzen das an Geschlechterdifferenzen tendenziell abzulösen? Oder wird das eine vom anderen überlagert? Hier wie dort drohen Rückfälle in biologistische Argumentationsweisen. Doch wie das Geschlecht ist auch das Alter immer auch ein kulturelles Konstrukt. Beispiel dafür sind die Debatten über die Literatur der allerjüngsten Generation. Am Roman "Crazy" des sechzehnjährigen Benjamin Lebert etwa schieden sich in den letzten Wochen die Geister. Ähnlich wie zuvor schon an der Frage, ob es dem vierzigjährigen Rainald Goetz noch zuzugestehen ist, ein Stück Jugendkultur zu repräsentieren. Davon handelt diesmal unser Debattenthema.

Mit einer Besonderheit wartet unsere Goethe-Rubrik auf: mit Literatur. Der realen Geschichte einer Exhumierung von Goethes Gebeinen, wie sie uns vor einigen Tagen in großer Aufmachung dokumentiert wurde, setzen wir eine literarische hinzu. Sie wurde schon vor etwa drei Jahren von einer bislang unbekannten, doch wie uns scheint begabten Autorin geschrieben. Sie konnte damals nicht wissen, daß die Realität der Phantasie mit verblüffenden Ähnlichkeiten und mit zum Teil ebenso grotesker Komik vorangegangen war.

Christa Wolf feierte im März ihren siebzigsten Geburtstag, im April vor hundert Jahren ist Vladimir Nabokov geboren. Die Autorin wie der Autor sind in dieser Nummer aus diesem Anlaß vertreten. Wir kündigen bei der Gelegenheit jedoch ausdrücklich an, daß literaturkritik.de keinerlei Vollständigkeit in der Berücksichtigung runder Lebensdaten anstrebt. Wir lassen uns die Themen und Bücher nicht durch Jahreszahlen vorschreiben.

Neu in dieser Nummer sind die Hinweise auf Zeitschriften und Jahrbücher. Wir werden sie fortsetzen.

Erneut danken wir für die ermutigende Resonanz. Die Zahl der "Besucher" unserer Seiten nimmt ständig zu. Wir entschuldigen uns bei ihnen für manche Unzulänglichkeiten und Fehler. Wir befinden uns weiterhin im Aufbau. Verbesserungen und Neuerungen sind geplant, doch sie brauchen ihre Zeit.

Thomas Anz, Alexander Berger, Lutz Hagestedt