Kein bißchen aufgeregt?

Das erotische Knistern in Judith Hermanns Erzählung "Sonja"

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Judith Hermanns Erzählung "Sonja" ist aus der Sicht eines männlichen Ich geschrieben. Die Figurenkonstellationen sind auf den ersten Blick konventionell, die Beziehungskonstellationen gar trivial: Der männliche Ich-Erzähler ist Künstler und er ist hin- und hergerissen zwischen zwei sehr gegensätzlichen Frauentypen. Er wird als jemand beschrieben, der stets von seltsamer Gelassenheit und Gleichgültigkeit ist. Typisch für ihn ist es, "kein bißchen aufgeregt" zu sein.

Mit Verena, mit der er schon vor Erzählbeginn eine Beziehung führt, verbindet ihn vor allem sexuelle Erfüllung. Sie lebt in Hamburg, er in Berlin. Sie sehen sich ab und zu. Verena ist schön, das "schönste, was er jemals gesehen hat", mit rotem Kirschmund, schwarzen langen Haaren, verführerisch und sinnlich. Alles ist unkompliziert und unbeschwert mit ihr. Sie geht mit ihm ins Bett, wann immer er will. Sie reist viel herum und ruft gelegentlich an. Wenn sie bei ihm in Berlin ist, putzt sie seine Fenster, stellt überall Fliederbüsche auf, singt, lacht, redet die ganze Zeit. Er meint "es bald ernst mit ihr." Doch wenn sie weg ist, hat er "Sehnsucht ohne Qual".

Ganz anders verhält es sich mit Sonja. Der Verlauf der Begegnung mit ihr wird - mit Aussparungen - vom ersten Blick bis zum letzten Moment geschildert.

Die Kontaktanbahnung findet auf der Rückreise des Ich-Erzählers von Verena statt, im Zug von Hamburg nach Berlin. Die präzise Schilderung der ersten Begegnung läßt bereits etwas von dem erahnen, was gerade an dieser Erzählung so faszinierend ist. Das sind zum einen Duktus, Ton und Wortwahl, zum anderen aber ist es vor allem die Kunst des Auslassens, die dazu führt, daß die Lesenden selbst den Personen und Ereignissen eine gewisse Plastizität verleihen müssen: "Es war Mai, der Zug fuhr durch die Mark Brandenburg, und die Wiesen waren sehr grün unter langen, frühabendlichen Schatten. Ich verließ das Abteil, um eine Zigarette zu rauchen, und draußen auf dem Gang stand Sonja. Sie rauchte und stemmte das rechte Bein gegen den Aschenbecher; als ich neben sie trat, zog sie die Schultern unwillkürlich nach vorn, und irgend etwas stimmte nicht mit ihr. Die Situation war gewöhnlich - der schmale Gang eines ICE irgendwo zwischen Hamburg und Berlin, zwei Menschen, die zufällig nebeneinanderstehen, weil sie beide eine Zigarette rauchen wollen. Sonja aber starrte aus dem Fenster mit einer unglaublichen Sturheit, sie hatte eine Körperhaltung wie bei einem Bombenalarm. Sie war überhaupt nicht schön. Sie war in diesem allerersten Moment alles andere als schön, wie sie dastand, in einer Jeans und einem weißen, zu kurzen Hemd, sie hatte schulterlanges, glattes, blondes Haar, und ihr Gesicht war so ungewohnt und altmodisch, wie eines dieser Madonnenbilder aus dem 15. Jahrhundert, ein schmales, fast spitzes Gesicht."

Sonja ist auch sonst in allem das absolute Gegenteil von Verena. Sex zum Beispiel findet sie nur zum Zwecke der Fortpflanzung sinnvoll. So konfrontiert der Text die Leser mit einer mehr als konventionellen Kontrastierung von Frauentypen, mit einer binären Frauentypologisierung, wie man sie auch schon von Otto Weininger her kennt: der Aufspaltung des weiblichen Geschlechts in die Sinnliche und in die Reine bzw. in die Hure und in die Heilige. "Sonja war biegsam" - so beginnt die Erzählung. Sonja ist "biegsam im Kopf". Dazu paßt, daß sie ständig irgendwelche Bücher mit sich herumschleppt und Gedichte rezitiert. Aber "biegsam" heißt auch, daß sie dem Künstler durch ihre Art - sie spricht fast nie, schaut ihn, auch im weiteren Verlauf des Textes, nur an - jede mögliche Wunschvorstellung, jede Projektion erlaubt. Das betont sie selbst einmal. Sie ist gleichsam eine Olimpia-Puppe der neunziger Jahre, eine Muse, in deren Augen der selbstverliebte Künstler Bestätigung findet, wann immer er sie sucht. Zumindest scheint es zunächst so.

Doch Sonja entzieht sich, wann immer es ihr paßt. Sie erzählt nichts von sich, gibt dem Künstler Rätsel auf. Das läßt sie geheimnisvoll und damit auch erotisch erscheinen. Der Ich-Erzähler betont, die erste Begegnung zwischen ihnen sei "ohne Erotik" verlaufen, doch ist er danach "außer Atem" und empfindet ihren Rücken (den er beim Aussteigen auf dem Bahnsteig kurz erkennen kann) als eine einzige Aufforderung. Das ist nur ein Beispiel für die immer wiederkehrende auffällige Diskrepanz zwischen seiner Wahrnehmung und seinem Handeln. Und die immer wieder frappierende Widersprüchlichkeit hat letztlich etwas damit zu tun, wie der Text generell funktioniert, wie er erotische Spannung aufbaut. Denn Erotik ist immer auch geknüpft an Knistern, Warten, Nicht-Erfüllung, Sehnsucht...

In "Sonja" werden, wie in den anderen Erzählungen Hermanns, stets Erwartungen geweckt, die enttäuscht und dann wieder neu aufgebaut werden, um schließlich unerfüllt zu bleiben. So erzeugt auch der stete Wechsel von Nähe und Distanz zwischen den Protagonisten einen permanenten Moment der Verzögerung, eine Spannung, die mit dem Textverlauf zunehmend intensiviert wird. Insgesamt ist die Erzählung "Sonja" eine Geschichte über das Warten. Sonjas erster Satz lautet: "Soll ich warten". Es ist eher eine Aussage als eine Frage. Er sagt: "ja". Seine Antwort ist Zeugnis auch des eigenen Wartens auf Veränderung, auf einen tiefgreifenden Eingriff im Leben - des Wartens auf den großen crash. Und auch die Leser warten. Sie warten die ganze Geschichte über darauf, daß 'es' endlich passiert. Die einzige, die niemals wartet, ist Verena.

Ambivalenzen und Verunsicherungen rütteln am Nervenkostüm der beiden anderen. Sonja erscheint dem Protagonisten etwa in ihrem Wunsch, ihn 'haben' zu wollen, "anmaßend". Doch eigentlich läßt er ihre "Aufdringlichkeit" gerne zu. Sie ist ihm dabei jedoch "unheimlich" von Anfang an. Er hat Angst vor ihrer Direktheit. Trotzdem entdeckt man immer wieder Verliebtheitssignale in seinem Verhalten. Oder was bedeutet es sonst, wenn er auf dem Weg zum ersten Rendezvous immer wieder leise ihren Namen vor sich hinsagt: "Sonja, Sonja".

Alle Erotik-Signale - wie etwa die Verabredung für den Abend im Cafe an einem Ufer, in einer lauen Sommernacht im Mai - werden vom Text wieder destruiert. Zunächst recht eindeutige Bemerkungen wie "danach sah ich Sonja fast jede Nacht" oder auf eine bereits etablierte häusliche Idylle deutende Aussagen wie "Ich kochte für uns, wir tranken eine Flasche Wein miteinander, ich räumte das Atelier auf" versetzen die Lesenden dann irgendwann in die Gewißheit, 'es' sei längst passiert. Doch werden sie kurz darauf eines besseren belehrt, denn der Künstler stellt fest, er habe Sonja gegenüber die "Distanz eines Schullehrers" und beobachte sie mit wissenschaftlichem Interesse.

Die erste und die einzige körperliche Annäherung ist zugleich der erotische Höhepunkt: "In dieser Nacht schlief sie das erste Mal bei mir. Ich hatte sie noch nie geküßt, ich hatte sie noch nie berührt, wir gingen nachts Arm in Arm durch die Straßen, und dabei blieb es. Sie zog sich eines meiner Hemden an, während ich im Bad war, als ich ins Zimmer zurückkam, hockte sie schon in meinem Bett und klapperte mit den Zähnen. Es war unglaublich kalt, ich legte mich zu ihr, wir lagen Rücken an Rücken, einzig die kalten Sohlen unserer Füße berührten sich wirklich. Sonja sagte: 'Gute Nacht', ihre Stimme war weich und klein, ich fühlte mich fürsorglich, und auf eine unwirkliche Art gerührt. / Ich war überhaupt nicht erregt, nichts hätte mir ferner gelegen, als jetzt mit ihr zu schlafen, dennoch war ich beleidigt, als ich an ihren ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen bemerkte, daß sie schon eingeschlafen war. Ich lag noch lange wach, es wurde warm unter der Bettdecke, ich rieb meine Füße ganz sacht an ihren. Ich weiß noch, daß es wie inzestuös gewesen wäre, mit ihr zu schlafen, ihre Brüste zu berühren, ich fragte mich, wie es sein würde, Sonja zu küssen, dann schlief ich ein."

Eine solche Passage über kalte Füße würde man gemeinhin - so isoliert - nicht als erotisch bezeichnen. Sie wird es wohl erst, wenn man sich lesend in diesem Katz-und-Maus-Spiel verhakt hat.

Die Erzählung "Sonja" endet wie alle Erzählungen dieses Bandes der jungen Berliner Autorin: mit einer verpaßten Chance. Nach einem längeren Aufenthalt Verenas in Berlin und ihrer Abreise, über die der Ich-Erzähler wunderbar lakonisch sagt: "Sie hatte sich vergewissern wollen, daß ich sie liebte, diese Gewißheit hatte sie bekommen, also ging sie wieder", folgt eine Phase der absoluten Idylle, heißt es doch: "Dieser Sommer war Sonjas Sommer". Gemeinsam rudern und schwimmen sie in allen umliegenden Seen. Sonja bekommt rote Wangen, sie verbringen "glückliche Nächte". Und obwohl er zu verstehen gibt: "Wir schliefen nicht miteinander, wir küßten uns nicht, wir berührten uns kaum, eigentlich nie", sinniert er doch immerhin: "Dein Bett ist ein Schiff." Sonja erpreßt dann irgendwann ein Heiratsversprechen - und reist für einen Monat weg. In Panik fährt er, kurz vor ihrer Rückkehr, nach Hamburg zu Verena und macht der Überraschten einen "atemlosen" Heiratsantrag, den sie annimmt.

Judith Hermann beschreibt das alles in einer knappen, nüchternen, lakonischen Sprache. Auf der Hörcassette, die jetzt, also bereits ein Jahr nach Erscheinen ihres ersten, hoch gelobten Buchs auf den Markt gekommen ist, liest sie den Text mit einer entsprechend rauhen, fast heiseren, eher tiefen Stimme ohne große Schwingungen, Höhen oder Tiefen, ohne fühlbares Temperament oder inneres Engagement - eben untheatralisch.

Judith Hermann beherrscht die Kunst der Aussparung und der Auslassung auf allen Ebenen. Die Leerstellen sind von ihren Leserinnen und Lesern jeweils mit eigenen (erotischen) Phantasien zu füllen.

Titelbild

Judith Hermann: Sommerhaus, später. Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
188 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3596223946

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Judith Hermann: Sommerhaus, später. Lesung der Autorin.
Der Hörverlag, München 1999.
2 Cassetten, 150 Min., 16,40 EUR.
ISBN-10: 3895846473

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