Zwischen schamanistischen Heilverfahren und postmoderner Psychotherapie-Szene

Wolfgang Schmidbauers Plädoyer für eine Integration von Mythos und Wissenschaft

Von Julia EstorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Estor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Schmidbauers Darstellung der historischen Entwicklungslinien und interkulturellen Variabilität psychotherapeutischer Ansätze geht auf sein 1971 erschienenes Buch "Psychotherapie. Ihr Weg von der Magie zur Wissenschaft" zurück. Wer vermutet, der Autor biete dem Leser lediglich einen recycelten Aufguss seiner frühen Ausarbeitung zu diesem Thema, wird eines besseren belehrt. Schmidbauers Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Psychotherapie ist keine spärlich retuschierte Überarbeitung, sondern ein neu überdachtes und vortrefflich recherchiertes Werk, das von Weitblick und Beschlagenheit zeugt.

Schmidbauers Vorgehensweise ist forsch und wirkungsvoll zugleich: Zunächst räumt er mit dem weit verbreiteten Vorurteil auf, die mythisch orientierten Heilungsverfahren heutiger Naturvölker wie auch der Menschen in der Altsteinzeit seien schlichtweg Scharlatanerie. Er wendet sich dezidiert gegen diesen tendenziösen Defizitansatz und fragt unumwunden: "Finden wir nicht in der Magie einen ersten Ausdruck psychotherapeutischer Vorgänge in einem sehr weiten Sinn?". Die Antwort liefert er stehenden Fußes: Magische Praktiken waren vor allem in jener evolutorischen Phase der kulturellen Adaptation von hohem Nutzen für die Individuen. Die Magie hatte in diesem stammesgeschichtlichen Entwicklungsprozess einen kathartischen und damit heilenden Effekt, wie Schmidbauer ausführt: "Vielleicht wären die ersten Menschen, die ein reflektierendes Bewußtsein kennenlernten, von den Schattenseiten dieser revolutionären Mutation gelähmt worden, hätten sie nicht die Magie entdeckt". Wie die Vielzahl religiöser Riten verschafft auch der Glaube an die Magie den Menschen die erforderliche Seelenruhe in unsicheren Zeiten des Umbruchs - er ist ein hilfreiches Mittel gegen die Unberechenbarkeit des Alltags.

Der vereinseitigten Wertung der verschiedenen Therapieformen auch in den folgenden Kapiteln eisern die Stirn bietend, zeigt der Verfasser plausibel auf, daß die Heilkünste der Schamanen ebenso wenig als "primitiver Hokuspokus" (S. 30) stigmatisiert werden können wie die psychotherapeutischen Verfahrensweisen in den postmodernen Industriestaaten. Psychische und körperliche Störungen heilt der Medizinmann psychotherapeutisch, denn er arbeitet mit dem Mittel der suggestiven Einwirkung und als solches mit einer Form von Psychotherapie. Die heilende Kraft der Magie scheint zuweilen Wunder zu wirken, doch in Wirklichkeit unterstützt sie nur die psychische Funktionstüchtigkeit auf dem ganz 'normalen' Weg ganzheitlicher Behandlungsmethoden. Wer will sich da noch das Recht herausnehmen, darüber zu richten, ob der gemeine Medizinmann das Leiden tatsächlich "heraussaugt" oder ob die unverbrüchliche Glaubensbereitschaft des Kranken dessen Rekonvaleszenz anfacht?

Eine Medizin ohne rituelle und magische Elemente wurde erstmalig von den Griechen vor über zweitausend Jahren praktiziert. So eroberte Hippokrates das Gebiet der Schamanen, und der wissenschaftliche Dialog ersetzte damit in weiten Teilen die urtümliche magisch-ekstatische Praxis. Entsprechend markierte die hippokratische Medizin den Beginn des Antagonismus von Medizin und Psychologie, von Psyche und Soma.

Die Seelenheilkunde des Mittelalters versank sodann nicht nur in epochaler Lethargie und Stagnation, schlimmer noch - zu konstatieren ist ein "Rückfall in eine Irrationalität, die bereits Thales und Empedokles überwunden hatten". Teufelsaustreibung, Hexenjagd und die längst vergessen geglaubten Vorstellungen der Humoralpathologie der Antike kennzeichnen grob vereinfachend - die mittelalterliche Psychotherapie.

In der Renaissance nun machte die Lehre von der Physiognomik Furore, die psychodiagnostische Deutung der menschlichen Gesichtszüge also. Überdies formulierte der Italiener Geronimo Cardano, Mathematiker, Naturforscher und einer der angesehensten Ärzte dieser Epoche, zum ersten Mal explizit die Wirksamkeit der Suggestion bei der Behandlung von Krankheiten. Folglich begann in der Renaissance die moderne Ganzheitsmedizin sich bereits allmählich abzuzeichnen, und auch der Beginn der deutschen Psychiatrie fällt in diese geschichtsträchtige Phase.

Überaus ausführlich beschreibt Schmidbauer schließlich auch die Grundsteinlegung der Psychoanalyse und deren geistige Bewegung. Die Freudsche Erforschung der Seelenphänomene enthält - so Schmidbauer - eine Vielzahl mythologischer Elemente, die sich vor allem im psychoanalytischen Vokabular manifestieren. Zudem ist die geistige Revolution, die Sigmund Freud mit seinen tiefenpsychologische Lehrmeinungen entfachte, darauf zurückzuführen, dass Freud "wissenschaftliche Reputation, theoretische Neuerungen, ausgeprägte soziale Interessen [...] und den Geist eines Führers, der andere motivieren und eine Gruppe zusammenhalten kann" verband.

Am Ende seines Buches beschreibt Schmidbauer - wie sollte es auch anders sein - den gegenwärtigen Stand der Psychotherapie, die in seinen Augen eine imense Normalisierung erfahren hat. Dies ist nicht verwunderlich, kommen doch die gegenwärtigen Emanzipationsprozesse vorwiegend den Starken zugute. Labilere Menschen bleiben nur allzu leicht auf der Strecke, verirren sich im Dschungel von Entfaltungsangeboten und Entscheidungszwängen. Mit den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen haben sich freilich auch die vorherrschenden Ursachen seelischer Störungen und damit auch die psychotherapeutischen Ansätze verändert. Litt der 'typische Psychotherapie-Patient' zu Freuds Zeiten z. B. an einer extrem rigiden Gewissensbildung, sind es heute vielmehr die Faktoren der enormen Optionsvielfalt und der damit verbundenen Problematik der individuellen gesellschaftlichen Plazierung, die den Psychotherapeuten regen Zulauf bescheren. Dieses neuerliche Phänomen der erschwerten Realitätsbewältigung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Seelennöte der postmodernen Gesellschaften äußerst vielgestaltig sind und entsprechend unterschiedliche Behandlungsmethoden erfordern. In diesem Sinne fordert Schmidbauer im Schlusswort seines höchst informativen und gleichsam kurzweiligen Abrisses der Geschichte therapeutischer Ansätze die Synthese der anerkannten Psychotherapie und der Mythologie: "Man sollte sie [die Psychotherapie] als wissenschaftliche Lehre sehen, die sich oft mythisch ausdrückt, um dort nicht schweigen und den Kranken allein lassen zu müssen, wo unser lückenhaftes Wissen eine andere als die bildhafte Sprache nicht zuläßt".

Titelbild

Wolfgang Schmidbauer: Vom Umgang mit der Seele. Entstehung und Geschichte der Psychotherapie.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2000.
430 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3596146968

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