Nach dem Tunnel

Martin Gülichs neuer Roman "Bellinzona, Nacht"

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man sagt viel und man tut einiges. Aber was genau ist es , was man meint, welche Motive sind es, aus denen heraus man es tut. Heiraten zum Beispiel. Damit man von "meiner Frau" oder "meinem Mann" sprechen kann? Was aber geschieht, wenn der andere etwas sagt, was nicht gleich verständlich ist? Was im Tunnel gesagt wird, ist ins Dunkel gesagt und genau darum geht es vielleicht in Martin Gülichs zweitem Roman "Bellinzona, Nacht". Aus dem Unbestimmten in ein noch Unbestimmteres hinein zu leben und zu sprechen, ist die Wirklichkeit, aber keiner erträgt sie. Deshalb tun wir immer so, als würden wir den anderen kennen, als könnten wir voraussehen, was er sagen oder tun wird.

Der dunkle Punkt in dieser Geschichte ist der Tunnel, die Röhre durch den Berg, unfallgefährdet, schon immer. Dreibaum, der mit seiner Frau nach Italien fahren will, verursacht in diesem Tunnel einen Unfall, oder ist gar nicht er schuld? Ist vielleicht Erika schuld, weil sie damit angefangen hat, irgendetwas zu erzählen? Aber wollte nicht Dreibaum auch erzählen, endlich von seinem Besuch beim Arzt berichten? Schließlich kommt keiner von beiden zum Zuge, statt dessen liegt Erika bewusstlos in Bellinzona im Krankenhaus, und Dreibaum irrt nächtens durch diesen Ort am Ende des Tunnels. Er versteht nichts mehr, erinnert sich an die Hochzeitsreise mit Erika, die nach Italien führte, versucht sich ihrer zu vergewissern, ist sie doch seine Frau, oder nicht?

Der zweite Erzählfaden oder besser das zweite Erzählknäuel führt in die Kindheit eines Jungen. Die Frage, die ihn vor allen anderen beschäftigt, ist die nach seinen Eltern und wie sie sich zueinander verhalten. Was macht der Vater nachts mit der Mutter? Warum stöhnt sie und hat morgens blaue Flecke an den Beinen und muss schließlich ins Krankenhaus? Die Phantasie des Jungen arbeitet und legt sich eine Realität zurecht, die vielleicht der Wirklichkeit entspricht, oder auch nicht. Aber gibt es überhaupt Tatsächlichkeit, vollendete Tatsachen? Was treibt die Menschen an, dass sie die Wirklichkeit einschnüren auf Fassbares hin? Keiner will einen Menschen verlieren, und damit das nicht geschieht, macht er sich Bilder vom Leben und begründet, wofür es möglicherweise gar keinen Grund gibt.

Martin Gülichs Roman entwirft die Kreisbewegung einer Suche nach Wahrheit, die immer wieder von vorne anfängt und zu keinem Ende kommt. Das dunkle Innere des Lebens, das ist der Tunnel, und auch wenn er durchquert scheint, lebt er weiter in der Welt jenseits davon, als angst machendes Geheimnis, ohne das keiner aber auch jemals etwas zu erzählen gewusst hätte.


Titelbild

Martin Gülich: Bellinzona, Nacht.
zu Klampen Verlag, Stuttgart 2001.
128 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3933156580

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