Ich bin nicht ihres Wesens

Das Gefängnistagebuch des Hans Fallada

Von Anne HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anderthalb Jahre hat Rudolf Ditzen, der ehemalige Verwalter des Dominiums Neuschönfeld, auf den Haftbefehl wegen einer Unterschlagung im Amte warten müssen. Am 20. Juni 1924 tritt Ditzen in Greifswald seine sechsmonatige Haftstrafe an. Die vorliegenden Tagebucheintragungen und einen Romanentwurf unternimmt sein Alter Ego, der Schriftsteller Hans Fallada. Seit er sich eines Pseudonyms bedient, trennt Rudolf Ditzen streng zwischen bürgerlicher Existenz und literarischem Dasein. Was er drucken lässt, stammt von Fallada; alles Übrige, Briefe an Redaktionen und Verlage eingeschlossen, schreibt Ditzen.

Das Diarium scheint zunächst der Selbstverständigung zu dienen, ist aber trotz intimer Einblicke in den Alltag eines Häftlings für ein Publikum verfasst. Zwei Motive werden verkoppelt, Fallada hält als Materialsuchender alles fest, was er erlebt, beobachtet sich selbst - und bewältigt schreibend den Aufenthalt in der Haftanstalt, der durch das Notieren des Geschehens überhaupt erst ertragbar wird. "Gottlob, dass Schweigen mir gar nicht schwerfällt! Schwer wäre es, wenn ich nicht diese Freude am Abend hätte, schreiben zu können. Es ist beinahe so, als lebte ich tagsüber nur für sie, ich sammle Material, ich seh dies, ich höre das, aber dann sitze ich endlich doch wieder hier, vor dem weißen Papier, und schreibe. Das Haus kommt langsam zur Ruhe. Draußen hört man noch die Vögel zwitschern, das Licht wird langsam dämmriger. Einmal schreit noch eine Lokomotive, ein wenig später höre ich den Zug anfahren. All das sickert durch die Milchglasscheiben meiner Zelle, und wie ich die Welt draußen nicht sehen kann, baut sie sich eigenwilliger und leuchtender hier vor mir auf."

Die Eindrücke unmittelbarer Natur, die Wanzenplage, der übel riechende Abortkübel und die ungewohnte körperliche Arbeit dominieren anfangs die Notizen. "Wieder empfand ich es als eine schreckliche Plage, daß gerade am Sonntag, wo man ständig auf der Zelle ist, also auch seinen Stuhlgang dort erledigen muß, der Abortkübel die ganzen vierundzwanzig Stunden ungeleert bleibt. Es müssen, in der Mischung mit Wanzengift, dem Desinfektionsmittel des Kübels und den ständigen Furzen, die bei dieser Kost ja unvermeidlich sind, schöne Gestänke herrschen. Daher, nur daher diese verfluchte gelbe Gesichtfarbe vieler Gefangener. Und alle ständig offenen Klappfenster helfen gegen diesen Gestank der Gestänke nischt." Der schmächtige Fallada, als Dreißigjähriger nur hundertzwanzig Pfund schwer, hat bislang nie körperlich gearbeitet und stellt sich in praktischen Dingen ungeschickt an. Er versucht aber, mit den anderen Schritt zu halten. Die zermürbende tägliche Arbeit - Fallada ist zum Sägen und Ausfahren von Holz eingeteilt - geht ihm erst nach Wochen der Quälerei leichter von der Hand. Die Füße sind ständig wund, Strümpfe und Wäsche werden nur einmal wöchentlich gewechselt. "Als 'Gebildeter' hat man (wie von nichts auch) davon eine Ahnung, wie ein Proletarierhemd nach einer Arbeitswoche ausschaut."

Mit den Gefangenen betreibt Fallada den üblichen Tauschhandel. "Überhaupt gewöhne ich mich nun ein. Gestern wurde mir besonders klar, daß ich nun anfange, mit den anderen zusammenzustimmen." Hauptgegenstand aller Bemühungen sind die ständige Sorge um den Tabaknachschub und die Streichholzfrage. Fallada lauscht den Gesprächen und derben Witzen der Gefangenen, deren Andersartigkeit bald den Reiz der Neuheit verliert. Wirkliche Nähe erreicht er nicht, die Mitgefangenen bleiben ihm gegenüber misstrauisch. "Dann aber liegt es, ganz wie draußen, daran, daß mich diese als Fremden empfinden. Ich bin nicht ihres Wesens, ich gehöre nicht zu ihnen. Sie wissen nichts mit mir zu reden... Und wenn sie einen zwingen, sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen, ist das vielleicht sogar gut... Wie stolz solche Einsamkeit macht! Und wie man sie alle verachtet, die anderen. Dann kehrt man zurück zu den wenigen, mit denen wirklich zu reden war im Leben, mit denen man Haut an Haut lebte - ein flammendes Leben, in dem man sich immer gab und stets reicher wurde davon."

Die Tagebuchaufzeichnungen Falladas in der Edition des Aufbau Verlages umfassen 167 Seiten, das Nachwort des Herausgebers Günter Caspar erhellt ausführlich die inneren und äußeren Umstände ihres Verfassens. Sorgfältig ediert und mit ausführlichen Anmerkungen versehen, stellt das "Tagebuch" ein wertvolles Dokument aus der Werkstatt eines angehenden großen Erzählers dar. Es ist zudem Zeugnis menschlichen Selbstverständnisses, das Einblick in die Extremsituation der Gefängnishaft gewährt. Dem Leser sei es überlassen, zwischen Rudolf Ditzen und Hans Fallada zu unterscheiden, wenn der Autor seinem Diarium zu erklären versucht, warum er zwei Mitgefangene (nach geglücktem Ausbruch) bei der Gefängnisleitung angeschwärzt hat: "Ich habe mir hin und her überlegt, warum ich derartige Gemeinheiten nicht lassen kann. Ich habe nichts gegen Stabinski und schon gar nichts gegen Joseph, ich mißgönne es ihnen auch nicht, daß sie frei sind und ich gefangen bin; mehr schon bedrückt es mich, die Willkür über die Autorität siegen zu sehen. Trotz all meiner Bücher, trotz all meiner Anschauungen: Ich bin der geborene Bürger, ich stelle mich stets auf die Seite der Autorität... Ich bin der geborene Spitzel, der Gemeinheiten nicht seines Vorteils willen, sondern ihrer selbst halber begeht."

Titelbild

Hans Fallada: Strafgefangener, Zelle 32. Tagebuch.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998.
189 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 335103203X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch