Mittenwalder Geige im Handlungslabyrinth

Hartmut Langes Novelle "Das Streichquartett"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mach dir keine Sorgen. Es ist völlig unmöglich, daß eine Frau, mit der man so lange verheiratet ist, einfach verschwindet", versucht der Violinist Stern seinen Kollegen Berghoff, den Leiter eines erfolgreichen Streichquartetts, zu beruhigen. Wie schon der Buchhändler Völlenklee ("Die Wattwanderung", 1990) und die junge Corinna Mühlbauer ("Eine andere Form des Glücks", 1999) löst sich jetzt Elisabeth Berghoff anscheinend in Wohlgefallen auf. Zunächst deutete nichts auf eine längere Abwesenheit hin, lediglich ein Urlaub mit den Kindern war verabredet.

Berghoff kommt die Sommerfrische seiner Familie, die mit seiner Kunst nichts im Sinn hat, nicht ungelegen, da er gerade mit seinen drei Kollegen ein schwieriges Streichquartett von Schönberg einstudiert. Doch durch das Ausbleiben seiner Frau wird Berghoff gereizt und unkonzentriert, was sich in unkonventionellen musikalischen Interpretationen widerspiegelt. Wie bei Hartmut Lange üblich, gibt es wieder reichlich geheimnisvolle Handlungseinsprengsel, die dem Leser detektivischen und philosophischen Spürsinn abverlangen. Berghoffs Wohnung scheint von fremden Besuchern regelmäßig heimgesucht zu werden, eine 18.000 DM teure Mittenwalder Geige, die er sich nicht leisten konnte, steht plötzlich auf seinem Vertiko, er glaubt, seine Kinder aus der Ferne auf einem fremden Schulhof zu erkennen, den mit Müllbergen vollgestopften Keller des Probenraums bezeichnet er mehrmals als "raffiniert ausgetüfteltes Stilleben", und in einem Albtraum wird er mit der kostbaren Geige geprügelt. Es ist keineswegs außergewöhnlich, dass viele dieser Rätsel nicht gelöst werden. Außergewöhnlich ist aber für den Erzähler, dass er seine eigene Handlung kommentiert: "Von nun an ging die Welt des Friedhelm Berghoff aus den Fugen." Einen solchen Satz bei Hartmut Lange zu lesen, löst eine gewisse Verstörung aus. Ein Autor, der in der Vergangenheit stets seine Leser wohltuend im Unklaren ließ, seine Worte so sorgsam und sparsam setzte und dessen Bücher immer von der Rätselhaftigkeit ihren Glanz bezogen. Und jetzt - wie mit einem dicken roten Ausrufezeichen versehen - will er dem Leser den Weg zur Entschlüsselung gleich frei Haus mitliefern.

Spätestens zu dem Zeitpunkt, als das Schönberg-Quartett zum zweiten Mal als "Musik eines Großstadtneurotikers" charakterisiert wird, ahnt man, dass Berghoff selbst ein Neurotiker ist. So gibt es am Ende der Novelle auch nicht das für Lange typische Überraschungsmoment, als der Protagonist einem Augenarzt (ausgerechnet der Vorbesitzer der Mittenwalder Geige) einen Mord gesteht. Der novellistische Kreislauf schließt sich wieder beim teuren Musikinstrument, um dessen hohen Kaufpreis Berghoff am Anfang der Handlung mit seiner Ehefrau in eine verbale Auseinandersetzung geraten war. Hartmut Lange, der bedeutendste und sprachlich versierteste zeitgenössische deutschsprachige Novellist, ist diesmal Opfer seiner eigenen Methodik des permanenten Verstörenwollens geworden, indem er selbst frühzeitig die Fährten legte, die aus dem Handlungslabyrinth führen. Es bleiben diffizile Fragen zu klären: Ist Berghoff durch Schönbergs Quartett neurotisch geworden, oder hat er als Neurotiker die Affinität zu Schönberg entwickelt? Wer hat ihm die Geige gekauft? Hatte seine Frau einen Liebhaber? Vielleicht sogar einen seiner Quartettkollegen? Alles nur Marginalien im Kontext des Verschwindens der Familie.

Titelbild

Hartmut Lange: Das Streichquartett. Novelle.
Diogenes Verlag, Zürich 2001.
138 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3257062818

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