Flucht aus dem Paradies

Warum Thor Kunkels Psychothriller keiner ist - und gerade deshalb ein besonders gelungener

Von Carolin BiewerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolin Biewer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Licht spielt auf der Wasseroberfläche eines tiefblauen Swimmingpools. Darauf treibt eine zarte, blassviolette Blüte. Das Cover von Thor Kunkels neuem Werk "Ein Brief an Hanny Porter" weckt Träume von Urlaub, Entspannung und Glück. Das ist auch genau das, was Hanny und Richard Porter zweimal im Jahr in ihrem eigenen luxuriösen Ferienhaus "Porter's Paradise" auf Hawaii suchen. Irgendwann einmal, wenn der Bungalow, der das Jahr über an Urlauber vermietet wird, abbezahlt ist, wollen sie ganz nach Hawaii ziehen. Sorgen- und schuldenfrei. Doch bald müssen sie am eigenen Leibe erfahren, dass das künstliche Paradies Maui, dessen hawaiianische Wildnis aus Golfplätzen und künstlich bewässerten Palmenhainen besteht, zur ganz realen Hölle werden kann.

Hanny, die als Erste in der Anlage "Makena Surf" eintrifft, findet den hübschen Bungalow verwüstet vor. Schließlich entdeckt sie ein Bekennerschreiben ihrer letzten "Gäste", in dem sie den Schaden akribisch aufgelistet findet: Die C-Taste des Flügels mit dem Schild: "Bitte nicht berühren!" fehlt, die Familienfotos wurden mit Filzstift verschandelt, die Muscheln "als Andenken" aus der Vitrine geklaut, die Betten sind in Urin getränkt, den Fußboden ziert Erbrochenes. Was Hanny aber am meisten erbost, ist der Hass, der aus den Zeilen spricht: "Sie schlaue kleine fette glückliche Hamsterratte Sie...". Es dauert nur wenige Stunden, bis sich Hanny und ihr Mann Richard nach einem heimtückischen Giftanschlag geknebelt und gefesselt als Geiseln eines im Endstadium krebskranken, mittellosen Seniorenpaars wiederfinden. Das Motiv der beiden ist klar: "Wir sind alte Leute, wir haben nichts mehr zu verlieren. Sie sind ein Glücksschwein und Sie sind noch jung... Lassen Sie uns nur ein paar Tage im Schatten ihres Glücks ausruhen... Mehr wollen wir nicht."

Nach seinem beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ausgezeichneten Debüt "Das Schwarzlicht-Terrarium" legt Thor Kunkel nun also einen Psychothriller vor - einen Psychothriller, der bei näherer Betrachtung jedoch keiner ist.

Trotz diverser Versuche Hannys und Richards, aus ihrem zur Hölle mutierten Paradies zu fliehen oder ihre Peiniger mit diversen Psychotricks zum Aufgeben zu bewegen, bleibt der Roman spannungsarm. Das mag enttäuschen. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick wird klar: Die Spannung kann und darf sich deshalb nicht einstellen, weil uns Hannys und Richards Schicksal absolut gleichgültig ist. Ebenso wie das der "Geiselnehmer" Ellie und Marv. Kunkel blickt so distanziert auf sie wie ein Edward Hopper auf seine Figuren, nicht ohne jedoch jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um sie Seite für Seite immer abstoßender zu zeichnen. Die Apathie der Geiseln springt auf den Leser über. Der Ekel weicht allmählich der Gleichgültigkeit, gerade weil die Situation für die in ihrem Paradies Gefangenen immer menschenunwürdiger wird. Die Gesellschaftskritik löst sich im Flimmern der Fernsehmattscheibe auf.

Trotz des außergewöhnlichen Schauplatzes und der bizarren Idee ist Kunkels neues Werk ganz dicht dran an dem, was man "Realität" nennt. Denn es gelingt ihm, dem Leser wie mit einer von Marvs Giftspritzen genau das Gefühl zu injizieren, das als letztes in einer vereisten Welt überlebt, in der es kein Gut und Böse mehr gibt und die Wahrheit "wie ein Börsenkurs" vor unseren Augen schwankt: die Lethargie.

Dieser Psychothriller "thrillt" nicht und er führt nicht tiefer zu den Abgründen der menschlichen Psyche, als bis zum gekachelten Grund des Swimmingpools. Und doch geht er unter die Haut und lässt frösteln.

Titelbild

Thor Kunkel: Ein Brief an Hanny Porter. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
176 Seiten, 11,80 EUR.
ISBN-10: 3499226782

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch