Gepunktete oder gestrichelte Uhren

Jakob Heins Kurzgeschichten von "Drüben"

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als dekadenter Westler hat man ja gar keine Vorstellung davon, wie das denn damals da drüben im anderen Deutschland für den gemeinen Jugendlichen so war. Nur vom Hörensagen über mehrere Ecken weiß der geborene Kapitalist von quasi paramilitärischem Schuldrill, von Spitzeln an allen Ecken, von gefälschter Cola, vom Ernst-Thälmann-Pionierauweis mit dem Gelöbnis zu unbedingter Körperhygiene usw. Es täte Not ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, es wäre angebracht, dem ehemaligen Klassenfeind mal im Nachhinein nahe zu bringen, was Ochs und Esel nicht aufhielten und wie Hammer und Zirkel wirkten, damals, auf den gewöhnlichen Jugendlichen jenseits des antifaschistischen Schutzwalls.

Jakob Hein tut das nun endlich in seiner Kurzgeschichtensammlung "Mein erstes T-Shirt", die eigentlich in keinem Haushalt der nicht-neuen Bundesländer fehlen sollte. Ja sogar Jakob Hein selbst sollte in keinem Haushalt fehlen, in keinem gesamtdeutschen, ist der 1971 in Leipzig geborene Autor doch eigentlich Doktor für Psychiatrie an der Berliner Charité. Mit seinem berufsbedingten Gespür für Geisteszustände schildert er bildreich in 26 Texten den Alltag des etwas anders Heranwachsenden in der DDR. Somit reiht er sich ein in die Garde derer, die aus ihrer Ostblockschädigung Kapital schlagen, wie etwa Leander Hausmann, Thomas Brussig - oder Gregor Gysi.

Der Ich-Erzähler in Heins Berichten widmet sich sämtlichen Sparten der Jugendkultur. Er erzählt, wie er einem Klassenkameraden eine E-Gitarre abschwatzte, weshalb er Antikommunist wurde (weil er einen Fingernagel verstümmeln musste, um sich damit als Saphir-Ersatz eine Plastiktütenpropagandaplatte auf dem Mixer anzuhören), was mit Poesiealbenbesitzerinnen geschieht, wenn man ihnen Sprüche wie "Wirf nie deine Mutter mit Kieseln, wenn sie stirbt, wirst du traurig sein. Schmeiß lieber nach deinem Vater mit einem richtigen Ziegelstein" zwischen die reinen Seiten fetzt. Außerdem geht es um das titelgebende T-Shirt, das gar kein T-Shirt war, sondern ein Nicki.

Hein widmet sich empfindlichen Mägen, er behandelt peinigende Sportstunden mit peinigenden Mannschaftswahlen, er beschreibt Wahlurnen, die zu einem nach Hause kommen, um sie mit "ja" zu füttern. Der Doktor gibt Anleitungen zu veterinären Telefonstreichen, lässt Blechdreiecke knacken, empfiehlt Strategien zum ersten deftigen Vollrausch und informiert über die subtilen Methoden linientreuer Lehrer. Die Lehrer fragten ihre Schüler, ob die Fernsehuhr zu Hause Punkte oder Striche hat. Hatte sie Punkte war alles in Ordnung, denn die "Aktuelle Kamera"-Uhr war gepunktet. Mit Strichen sah es dann düster aus. "In manchen Familien ging es so weit, daß die Uhr Striche hatte, bis die Eltern nach Hause kamen und die Kinder schnell umschalteten. Wenn die Kinder dann im Bett waren, bekam die Fernsehuhr wieder Striche."

Jakob Hein schreibt in munterer Ironie und mit flottem Sarkasmus. Er befasst sich mit den Absurditäten des Systems und bringt Zeiten und Umstände mit diesem leichten Anflug von 'Ostalgie' denen zurück, die unter ähnlichen Umständen groß wurden, und jenen näher, welche durch andere politische Gegebenheiten geprägt sind. Außerdem beweist der Autor seine Aufmerksamkeit für die Nebensätze der vorpubertären Zeiten, den ihnen folgenden Hormonexplosionen sowie den Übergang zur Findung einer irgendwie gearteten Persönlichkeit durch die Darstellung von Episoden, die einem irgendwie, mehr oder weniger aus der eigenen Biographie bekannt vorkommen. Jenseits von konkurrierenden Systemen.

Der russische 'Literatur-Zar' Wladidmir Kaminer, der dem Verfasser ein Vorwort spendiert hat, beschreibt ihn darin so: "Jakob Hein ist ein Staubsauger. Konsequent und unermüdlich saugt er alles auf, was er um sich herum sieht, und verarbeitet die eigene und fremde Realität in akkurate, zweieinhalb Seiten lange Geschichten, die in einer angenehmen, leicht verständlichen Sprache verfaßt sind. Danach stopft er sie in eine Klarsichthülle, die er in einen ziemlich dicken Aktenordner abheftet, auf dessen Rücken 'Dr. Jakob Hein' steht."

Titelbild

Jakob Hein: Mein erstes T-Shirt. Kurzgeschichten. Mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer.
Piper Verlag, München 2001.
152 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3492270255

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