Das Raunen der Erinnerung

António Lobo Antunes "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht"

Von Sven AchelpohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Achelpohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Engel des Todes ist die Sprache. Mit diesem Todesengel, der seit biblischen Zeiten auch den Namen Samael trägt, ringt der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes seit Anbeginn seines literarischen Schaffens. Einer verdichteten Thanatologie verschreibt sich auch Antunes' jüngster Roman "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht". Der faktische oder zumindest imaginierte Tod eines Familienoberhauptes ist auch hier Anlass für die Rekonstruktion einer patriarchal geprägten Familienchronik. Dem sterbenden Vater schneidert die Erzählerin Maria Clara eine ganz neue, phantastische Biographie, die aus dem mediokren Waffenhändler eine geheimnisumwitterte Gestalt werden lässt. Diese Lebenslüge Maria Claras, die aus den verblassten Requisiten des Dachbodens der Familienvilla in Estoril zusammenfabuliert wird, ist nicht nur ein psychologisches Kammerspiel, sondern zugleich ist diese Reise ins innere Imaginarium Maria Claras eine Archäologie des kollektiven Unbewussten Portugals.

Die für den Romancier Antunes typische Vielstimmigkeit findet auch in diesem Roman seine formale Durchführung. Die anonymen Stimmen, die den Redefluss der Erzählerin skandieren, verzahnt der Autor zum Monolog einer Bauchrednerin - selbst die fremden Stimmen sind deutlich Chimären der voix intérieure Maria Claras. Dieses mit dem Pathos der Vereinzelung vorgetragene autistische Sprechen scheint über einem Abgrund zu schweben und ohne den Resonanzboden der Wechselrede auszukommen: eine radikale Selbstbezüglichkeit, die nicht ohne Konsequenzen für die Aufmerksamkeit des Lesers ist. Trotz des Reizes, der von Maria Claras im Traum zusammengefügten Erinnerungsruinen ausgeht, endet Antunes als Erzähler kreiswärts dort, wo er bereits 1979 mit "Der Judaskuß" begann: im bekenntnishaften Soliloquium. Es gibt jedoch einen signifikanten Unterschied zu den frühen Romanen Antunes'. Das glissando der Bilder und Metaphern ist immer weniger schmückendes Beiwerk mäandrierender Bewusstseine, sondern erdrückt oder trägt - je nach Sichtweise - Antunes' Prosa-Poem derart, dass die spätbourgeoise Familienchronik von "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht" ins Formlose zerfließt. Die gewaltige und oft auch gewaltsame Sprache wird zu einem Murmeln und Rauschen, welches sich der Musik anverwandelt. Die bedeutungsprismatische Vielschichtigkeit dieser synästhetischen Prosa stellt somit einen Probefall für jegliche Hermeneutik dar. Damit wird das gerne herbeizitierte Bild des Collagenromans zu einer Sackgasse, viel eher erinnert das Melos von Antunes' Romanen an Decollagen, an zerschlissene Oberflächen, die einen tiefgründigen Untergrund nur teilweise bloßlegen, dessen Sichtbarkeit allerdings seine Unlesbarkeit umso deutlicher macht. Seine Romane gleichen, um eine Allegorie aus Antunes' "Livro das Crónicas" zu verwenden, einem untergegangnen Schiff, dessen Mast die Wellen der Zeit durchbricht. In "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht" präsentiert sich der Autor wiederholt als Opfer einer Obsession, die sich aus den Aporien des bewahrenden Schreibens nährt, dem trotz Schöpfung immer Zerstörung und Auslöschung vorangegangen ist. Die letzte Referenz des Sagbaren ist für Antunes immer das Unsagbare, und dies trotz seines bramarbasierenden Idioms. Dieser reich instrumentierte Roman markiert damit eine weitere Station einer sublimen Sisyphusarbeit, die sich auf dem Weg zu einer versprochenen Gegenwart befindet. Eine Gegenwart, die jedes Mal von der abschüssigen Bahn der Vergangenheit verschlungen wird.

Trotz der pittoresken Brutalität des Romans - auch eingedenk der Etikettierung als "literarisch verdichtete Wunde" (Eduardo Lourenço) - verstört die selbstgewählte Ausweglosigkeit der Protagonisten des Romans, die Antunes erneut mit virilem Masochismus vorführt. Dabei dient der unwirsche Anschlag auf der Klaviatur der Sprache immer der paradoxen Strategie die hintergründige Fragilität deutlicher hervortreten zu lassen: Verletzlichkeit drapiert mit Prosa-Girlanden aus Eingeweiden. Die letzte Szene des Romans, die Maria Clara vor dem Fernseher zeigt, trägt alle Kennzeichen dieser versteckten Poesie: "Ein Mädchen lächelt mich aus dem Apparat an. Leider dauert das Lächeln nur kurz. Wahrscheinlich war es nicht einmal ein Lächeln. Wahrscheinlich bin ich es nur, die ein Lächeln braucht. Es gibt Augenblicke im Leben, da brauchen wir so dringend ein Lächeln. Aber so berühre ich mich selbst mit dem Finger auf dem Glas." Maria Claras Familienchronik und damit zugleich ihre Selbstannäherung enden mit der Einsicht, dass jeder sich selbst der Fernste bleibt.

Titelbild

António Lobo Antunes: Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Portugiesischem von Maralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand Literaturverlag, München 2001.
592 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3630870910

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