Das Leben an sich und der Rock 'n' Roll

Andrzej Stasiuks Roman "Wie ich Schriftsteller wurde"

Von Johannes SchatenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schaten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was versteht man unter einer Autobiographie? Einer "intellektuellen" Autobiographie noch dazu? Der Autor Andrzej Stasiuk hat seinen Kopf dadurch aus der Schlinge gezogen, dass er einfach das Wörtchen "Versuch" davor setzte. Angekündigt wird nun also der Versuch einer intellektuellen Autobiographie; serviert bekommt man allerdings eher eine Sammlung von in loser Folge aneinandergereihten Anekdoten über das Erwachsenwerden im trostlosen Warschau der achtziger Jahre. Damals war alles billig, die Jugendlichen tagelang ungewaschen und Gewalt alltäglich - "aber grundsätzlich bekam niemand etwas umsonst ab". Der Autor hat seine Jugend gewissermaßen in Dauerrevolution gegen Eltern, Schule, Armee und Gesellschaft verbracht. An Beschreibungen der Umstände spart er nicht, und so erfährt man in noch nicht dagewesener Länge Preise und Darreichungsformen von Konsumgütern. Wie viel die Straßenbahn kostete, in welchen Sorten es zum Beispiel Joghurts, Quark, Käse, Süßigkeiten, Bier und diverse andere Alkoholika (hier liegt ein unbestreitbarer Fokus) und weitere Dinge gab. Nicht zu vergessen ein melancholisches "Nicht so wie heute", das schon fast ironisch jedes Mal nachgereicht wird. Wo andere Autoren Beschreibungen von Land und Leuten heranziehen, bedient sich Stasiuk dieser Umstände, um uns ein Bild von seiner Lebenswelt zu vermitteln.

An irgendeinem nicht besonders besonderen Tag bleibt der junge Andrzej Stasiuk während der Straßenbahnfahrt zur Schule einfach sitzen, während seine Station vorüberzieht, und danach geht er nie wieder hin. Das ist nur die erste Manifestation einer von Unlust und Gleichgültigkeit geprägten Jugend, die den Rahmen für die in diesem Buch lose aneinandergereihten Anekdoten abgibt. Mit seinen Freunden und Bekannten führt Stasiuk ein Leben, das sich wohl am besten als das eines Punks mit intellektuellem Einschlag beschreiben lässt - ziellose Tramfahrten und Spaziergänge durchs trostlose Warschau, Saufen, endlose Diskussionen. Stasiuk findet zwar zunächst Arbeit, doch bald gibt er sie auch schon wieder auf - nach dem bewährten Rezept, an der Haltestelle nicht auszusteigen. Eines Tages wird er dann schließlich zum Militär eingezogen, etwas, vor dem alle jungen Männer sich fürchten. Aber als echter Stoiker - oder eher Nihilist - nimmt der Autor auch dort gleichgültig alles so hin, wie es kommt. Das Motto ist: "Ich hatte keine Erwartungen, wurde also auch nicht enttäuscht." Das hindert ihn allerdings noch lange nicht, nach einer Silvesterfeier zu desertieren - oder vielmehr schlicht und einfach nicht mehr zurückzugehen. "Ich wollte eigentlich schon zurück, überlegte es mir aber anders. [...] So eine allgemeine Unlust der Art: Scheiß was, ich geh nicht..." Er muss sich also zunächst vor den Feldjägern verstecken, was ihm mit Hilfe einer gewissen Kaltblütigkeit gut gelingt. Dann versucht er als ,einfachen' Ausweg aus seinem Dilemma einen Selbstmordversuch vorzutäuschen, was aber an den Ärzten scheitert, die nahezu ebenso kaltblütig sind wie er selbst. "Im Herz-Jesu sagte der Arzt: ,Nähen wir den Arsch ohne Betäubung, er merkt sowieso nichts.' Ich sprang auf und rannte weg. Niemand lief mir nach, wozu auch." Eine Woche später wird Andrzej Stasiuk schließlich doch von der Militärpolizei aufgegriffen und zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Freiheitsentzug in einem brutalen polnischen Gefängis - Stasiuk gefällt es nicht schlecht. "Ich hätte das Gefängnis hassen sollen, aber das Gefängnis gefiel mir." Leichthin, lakonisch und mit einer abgründigen Ironie beschreibt er die Umstände: "Zehn Riesenkerle mit Gummiknüppeln stürmten rein, in Helmen, mit Visieren und Schilden. Sie stürmten rein und versohlten uns wortlos. Sie knüppelten ganz ruhig, ohne Hast, so dass jeder was abbekam. Kaum waren sie fertig, gingen sie schon. Kein Wort des Dankes, kein ,Wiedersehen'. Wir spürten, dass Veränderungen eingetreten waren und nichts mehr so sein würde wie früher." Das war an dem Tag, als in Polen das Kriegsrecht erklärt wurde. Eine weitere in wenigen Zeilen ausgeführte Anekdote erzählt noch einen vorgetäuschten Suizidversuch, diesmal aus Langeweile: "An Weihnachten bekamen wir heiße Wurst. Manche sichelten sich. Aber eher aus Langeweile als aus Verzweiflung, oder um ins Spital zu kommen und einmal Frauen und zivile Bürger zu sehen. Ich wollte auch sehen, wie die Stadt Stargard aussieht und habe mich gesichelt, aber zu wenig fürs Spital. Offensichtlich zeigte ich zu wenig Entschlossenheit. Als Sledz sich sichelte, spritzte es bis an die Wand. Sie brachten ihn sofort weg. Als er zurückkam, sagte er, ganz Stargard sei ein Loch und es hätte sich nicht gelohnt."

Schließlich rückt der Tag von Stasiuks Freilassung näher, aber er freut sich nicht darauf: "Die Freiheit selbst ödete mich an. Ich erwartete sie ganz ohne innere Überzeugung". Er wird bei seiner Rückkehr nach Warschau als Held willkommen geheißen, dabei war er, wie er schreibt, kein Freiheitskämpfer und auch kein Widerständler; er hatte einfach keine Lust mehr.

Das Punk-Leben, an das er - nach Warschau zurückgekehrt - wieder anknüpft, ist nun bohemisch und künstlerisch gefärbt. Er besucht ein Schulzentrum für Soziotherapie, wobei man kaum den Eindruck hat, die Absicht der Pädagogen werde hier umgesetzt - vielmehr ist es "eine Kultschule der Warschauer Gegenkultur" -, er arbeitet hier und dort, zählt Musiker und Maler zu seinem Bekanntenkreis und lernt auch jemanden kennen, der ihm rät, Schriftsteller zu werden. Er schreibt zwei Bücher, aber sie werden nicht veröffentlicht: "Das eine war zu pazifistisch und das andere zu knastig." Er konspiriert gegen die Regierung und arbeitet für die Widerstandskämpfer, doch mehr aus Lust an der Gefahr als weniger aus einer bestimmten Gesinnung heraus. Erst nachdem er dieses ziellose Leben vollkommen ausgereizt hat, beschließt der Autor schließlich nach der nächtlichen Besteigung eines Krans "doch endlich wegzufahren und Schriftsteller zu werden". "Ich sah mir die Stadt an und wusste, höher werde ich nicht mehr kommen."

Der Leser mag sich nun auf der vorletzten Seite fragen, was der Titel des Buches "Wie ich Schriftsteller wurde" mit den vorangegangenen Seiten zu tun hat - falls er nicht gerade im holistischen Sinne gemeint war. Wir werden jedoch von Stasiuk eines Besseren belehrt, der geradezu feixend verkündet, dies sei nur der erste Teil seiner Autobiographie gewesen, und bald werde er den zweiten schreiben, "denn das ist eine ungemein angenehme und fesselnde Beschäftigung". In diesem werde dann auch "zwangsläufig mehr von der Literatur und dem Schreiben die Rede sein, weniger dagegen vom Leben an sich und Rock 'n' Roll." Womit diese Frage geklärt war, bleibt jedoch noch die nach dem Wort "intellektuell" im Untertitel - "Versuch einer intellektuellen Autobiographie". Es gibt denn auch doch tatsächlich im Laufe des Buches immer mal wieder Hinweise auf intellektuelle Aktivitäten des Autors. Hier und da wird der Name eines Autors oder ein Buchtitel fallengelassen - allerdings dann doch eher im Sinne eines in der Popkultur vorkommenden "Name droppings" als dass wir erfahren würden, welchen Einfluss im intellektuellen Sinne das auf den Autor hatte. Erstaunlich noch, als Bemerkung am Rande, wie der Stil jedenfalls dieses Buches an Charles Bukowski erinnert; es muss mit dem Alkohol zu tun haben.

Titelbild

Andrzej Stasiuk: Wie ich Schriftsteller wurde.
Übersetzt aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
150 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3518122363

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