God save the Queen!

Jon Savage erzählt in "England's Dreaming" die Geschichte der Sex Pistols

Von Daniel BeskosRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Beskos

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war das Pressebild des Tages: Am 1. Mai 2000, während der anti-kapitalistischen Proteste in London, hatten Demonstranten der Skulptur von Winston Churchill einen Irokesenschnitt aufgesetzt, bestehend aus feinem englischen Rasen vom Parliament Square. Empörung ging durch Großbritannien: Punk funktionierte immer noch als ein Zeichen des Protests.

Jon Savage, 1954 geboren und Musikjournalist seit 1977, hat Punk seit seinen frühen Tagen verfolgt. 1992 erschien sein Buch "England's Dreaming" erstmals in Großbritannien und den USA. Schon bald galt es als DAS Standardwerk über die Geschichte des Punk und wurde 1993 in den USA als Musikbuch des Jahres ausgezeichnet. Erst jetzt ist eine deutsche Übersetzung erschienen. Leider, und das muss hier doch betont werden, müssen einige gravierende Abstriche an der deutschen Ausgabe gemacht werden: Es wurde nicht nur gekürzt, auch die Übersetzung ist alles andere als flüssig, viele englische Ausdrücke und Redensarten glücken im Deutschen eben nicht, und hier fehlt dann das nötige Feingefühl, eine adäquate zu finden; es bleibt allzu oft bei einer wörtlichen Übersetzung. Darüber hinaus ist auch nicht gründlich redigiert und lektoriert worden, hunderte von Interpunktions- und Orthographiefehlern ärgern beim Lesen.

Savage beschreibt äußerst gründlich und ausführlich alle Aspekte der Punk-Geschichte, von den Biographien einzelner Protagonisten über die ersten Auftrittsmöglichkeiten bis hin zu den gesellschaftlichen Umständen, die die Punk-Bewegung nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig machten. Angefangen wird natürlich mit "SEX", dem Mode-Laden in der Londoner King's Road 430, eröffnet von Malcolm McLaren und Vivienne Westwood, die ihre Vision einer neuen, provokanten Mode, kombiniert mit Fetisch-Artikeln aus Sex-Shops, endlich umsetzen konnten. Parallel zu den ersten Entwicklungen einer neuen, noch unbenannten, aggressiven Musikform in den USA, speziell im New Yorker Club "CBGB's" mit solch legendären Bands wie den "RAMONES" und Johnny Thunders "NEW YORK DOLLS" entwickelte McLaren die Idee einer eigenen Band, die seine Mode, seine Gesellschaftskritik und auch seine apokalyptischen Visionen vom Ende der Einfachheit als lebendes Kunstwerk verkörpern sollten. Bald wurde er auch unter den jungen Musikern, die wie so viele andere "SEX" zum Zeitvertreib besuchten, fündig: Mit Steve Jones, Paul Cook und Glen Matlock war die erste Besetzung der "SEX PISTOLS" fast komplett, es fehlte nur noch ein Sänger. Irgendwann traf McLaren dann auf John Lydon, der sich überreden ließ, zu singen, und fortan unter dem Namen Johnny Rotten Frontmann der "SEX PISTOLS" wurde.

Mit dieser Formation nun, die zu einem wirklich erstaunlich großen Teil "sein" Projekt war, konnte McLaren ein provokantes Konzept aus Auftreten und Äußerem zusammenstellen und daneben seine Management-Qualitäten unter Beweis stellen.

Erstaunlich an der Schilderung der frühen "SEX PISTOLS"-Konzerte ist, auf wie wenig Resonanz diese eigentlich trafen und wie klein die Zahl der Zuschauer war, die wirklich mitgerissen wurden. Auch fällt auf, dass sich bei den meisten Konzerten wohl die immer wieder gleichen Personen aus dem "PISTOLS"-Umfeld einfanden, sich also schnell eine feste, wohl aber kleine Fan-Gemeinde bildete, die die Botschaft der Rebellion verstand und auch in ihr eigenes, "normales" Leben mitnahm. Zu diesem Zeitpunkt ließ sich die spätere Tragweite der Band noch nicht einmal erahnen, und erst durch Glück und Zufall kamen die "PISTOLS" zu größerer Publizität: Als die Band "QUEEN" für eine Fernsehshow ausfiel, erinnerte sich irgendein Redakteur an McLaren und seine "SEX PISTOLS"; und die Band kam zu ihrem heute legendären und gleichzeitig völlig unspektakulären Auftritt in Bill Grundys "Thames Today": Es fielen einige unanständige Wörter, der erste Presse- und Medienskandal, Grundy suspendiert, die "PISTOLS" bekannt, und die Musikform hat ihren Namen: Punk. Erstaunlich auch, wie leicht provozierbar die britische Öffentlichkeit noch 1977 war. Gleichzeitig wurde Punk erst zum Skandal, als er dem eigentlichen kulturellen und sozialen Umfeld (junges Publikum, wenige Zuschauer, kleine dreckige Clubs, Spontanität, Selbstbestimmung und eigenständige Organisation) entwachsen war, und sich einer großen Öffentlichkeit zu deren eigenen Bedingungen präsentierte: Hippie-Rock war angesagt, in der Abend-Unterhaltung und in Fernseh-Interviews gaben sich die sonstigen Musiker brav und gesittet. Natürlich mussten Rotten und Co. auffallen. Dennoch bleibt es kaum noch nachvollziehbar, wie wichtig eine solche, eigentlich kleine, subkulturelle Angelegenheit damals genommen wurde: Die "SEX PISTOLS" waren die Titelstory der großen Boulevard-Blätter (man stelle sich das nur mal heute vor: Eine Punk-Band auf der Titelseite etwa der Bild-Zeitung). Daneben gab es u. a. Aktionen der Gewerkschaftsverbände gegen die Band, die Arbeiter in der Druckerei weigerten sich, die Plattenhüllen zu "Anarchy in the UK" zu drucken, usw.

Durch all diese Wirrungen und Skandale hindurch führt Savage den Leser weiter, zeigt persönliches Erleben und gesellschaftliche Reaktionen, lässt viele der damals Beteiligten zu Wort kommen, zeigt die verschiedenen Ansichten zu bestimmten Dingen und weist, und das ist das Grundlegende, vor allem auf eins hin: Schon seit dem ersten Moment waren eigentlich alle Beteiligten zerstritten, es gab Auseinandersetzungen wegen der kleinsten Details, und definitiv nur sehr wenige einigende Momente. Was hätte alles passieren können, wäre Punk damals wirklich eine "Bewegung" gewesen! Dass trotzdem so viel passiert ist - und anderes auch wiederum nicht passiert ist -, dieses Verdienst wird Malcom McLaren zugesprochen. Überhaupt wird McLaren als ein zwar sturer, eigensinniger und wohl auch egoistischer Charakter dargestellt; nichtsdestoweniger ist der Ruf der "SEX PISTOLS" vor allem seinen taktischen Fähigkeiten, seinem Wissen darum, was sich wie, wo und warum lohnt oder nicht, zuzuschreiben. Die Originalität und Aggressivität kam von der Band. Dass die Welt davon auch Kenntnis nehmen konnte, das verdankt sie McLaren.

Und so geht die Geschichte weiter, die Konzerte werden verboten, die Singles verkaufen sich viele hunderttausend Mal und es braucht die berühmten zwei Plattenfirmen-Schwindel (mit EMI und A&R), bis schließlich das erste Full-Length-Album bei Virgin erscheinen kann: "Never mind the Bollocks". Danach waren sie eigentlich gefangen, allesamt, im Netz der Musikindustrie, und es ging der Auflösung entgegen, von keinem so überzeugend verkörpert wie von Simon "Sid Viscious" Barker, der fast gar nicht Bass spielen konnte und dennoch allein wegen seines Images als "Punk Boy" zu den "SEX PISTOLS" kam. Sein Niedergang durch Heroin und Größenwahn, sein Zerfall in der Form des "live fast, die young" eines James Dean wird ausführlich beschrieben. Und schließlich, gerade während der so hoffnungsvoll von den Fans und den Medien erwarteten US-Tour im Januar 1978, das Ende: In einem Land, in dem Punk so ganz anders als in England rezipiert wurde, werden die "PISTOLS" in ein hoffnungsloses Unterfangen geschickt: Sie sind einfach fehl am Platz, unpassend in L. A. mit seiner Sonnenmentalität, unpassend in San Francisco mit seiner viel feingeistigeren Beat-Vergangenheit, passend vielleicht, aber nicht gewollt in der morbiden Industriestadt Cleveland. Darüber hinaus sind die Rahmenbedingungen völlig falsch: Vor vielen tausend Zuschauern in ausverkauften Großhallen sind die "PISTOLS" zu dem geworden, was sie hassen, nämlich Rockstars. Am meisten spürt das John Lydon aka Johnny Rotten, er zieht die Konsequenz und steigt aus der Band aus.

Danach: Dreckwäsche. Prozesse zwischen McLaren und Rotten, Virgin und McLaren. Daneben McLarens Bemühungen, den lang geplanten Doku-Film "The Great Rock'n'Roll Swindle" doch noch zu produzieren. Und dann noch: Sid Viscious' Drogenexzesse, Mordverdacht nach dem Tod seiner Freundin Nancy Sprungen. Der Versuch von McLaren, ihn als neuen Star aufzubauen. Doch er geht seinen vorbestimmten Weg in die Überdosis. Das Ende der SEX PISTOLS.

In der fast 60-seitige Diskographie im Anhang finden sich nicht nur alle wichtigen Bands aus jener Zeit, sondern auch viele Verweise darauf, was aus den jeweiligen Personen heute geworden ist.

Jon Savage schafft es, 500 Seiten lang zu fesseln. Alles ist so spannend und lebensnah geschrieben, dass man für eine Weile wirklich vergisst: Dies ist 2001. Punk's not dead. We mean it, man!

Titelbild

Jon Savage: England's Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock.
Herausgegeben von Klaus Bittermann.
Übersetzt aus dem Englischen von Conny Lösch.
edition TIAMAT, Berlin 2001.
544 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3893200452

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