Von pissenden Hundsaffen und mitteleuropäischen geflügelten Zwergchinesen

Über einen Sammelband mit Aufsätzen zur "Ästhetik des Ähnlichen"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Denken kann man auf zwei verschiedene Weisen: wissenschaftlich-exakt oder in Analogien. Also entweder mit Hilfe von Maßstäben und Messgeräten, die die Weltkomplexität auf exakt zu quantifizierende Einzelqualitäten reduzieren. Oder mittels Einbildungskraft und Intuition, die alles miteinander zu synthetisieren vermögen: Farben mit Gerüchen etwa oder den Klang eines Wortes mit seiner Bedeutung. Das Ähnlichkeitsdenken dominierte bis ins 16. Jahrhundert hinein, alles gehört in ihm zusammen, Mensch und Natur, Gott und Kosmos, Oben und Unten. Weil alles einander ähnelt. Wie im Großen, so im Kleinen; der Mikrokosmos spiegelt sich im Makrokosmos und umgekehrt. Jedes Teil birgt in sich das Abbild des Ganzen. Wer nur ungenau genug hinsieht, erkennt Ähnlichkeiten überall. Der Hundsaffe zum Beispiel ähnelt der Sonne, weil er, so Agrippa, "jede Stunde des Tags, also zwölf Mal, bellt und zur Zeit der Sonnenwende eben so oft pißt."

Kein Wunder, dass derlei höchst anfechtbares Theoretisieren am Leitfaden von Analogie, Ähnlichkeit und Gleichnis mit dem Siegeszug der empirischen Naturwissenschaften seit dem 17. und 18. Jahrhundert für obsolet erklärt wurde. Vielleicht die schönste Polemik gegen das Ähnlichkeitsdenken findet sich - ausgerechnet - bei Musil. In seiner Abrechnung mit Oswald Spenglers auf Analogien basierenden, pseudowissenschaftlichen Thesen vom "Untergang des Abendlandes" heißt es: "Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefaßt an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müßte nicht erst Ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, daß die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tatverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum."

Solche Absurdität des Vergleichens und der Ähnlichkeit hat Robert Gernhardt wie folgt auf den Punkt gebracht: "Der Chines spielt gern ins Gelbe / Von Chinas Hasen gilt dasselbe. / Der Chines schaut gern verschlagen / Das kann man auch vom Hasen sagen." Demnach korrespondiert das Chinesentum des ebenfalls für seine Wollust bekannten Hasen (um nicht zu sagen Zwerghasen), der bekanntlich in der ?euys-Rezeption mit dem erweiterten Weihnachtsbegriff konnotiert ist, mit der ins Gelbliche spielenden Idee des Christentums. Bekanntlich praktizierte Musil als Dichter dieses Denken in Ähnlichkeiten und Gleichnissen selbst sein Leben lang. Das verbindet ihn mit vielen Künstlern der Moderne, mit Autoren, Musikern und Malern, für die das Finden und Erzeugen von Korrespondenzen ein wesentliches Mittel zur Emanzipation vom traditionellen Mimesisprinzip der Kunst war und ist. Doch nicht nur in der modernen Kunst, auch in den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts wird das Ähnlichkeitsdenken zunehmend als fruchtbare heuristische Methode reaktiviert, eine Entwicklung, die ihren Ausgang wohl mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds nahm.

Ein nun von Gerald Funk, Gert Mattenklott und Michael Pauen herausgegebener Sammelband präsentiert eine Reihe lesenswerter Untersuchungen, die sich der spezifischen Produktivität des Ähnlichkeitsdenkens widmen. Die Studien konzentrieren sich dabei auf Beispiele aus der ästhetischen und kulturkritischen Diskussion der letzten beiden Jahrhunderte: Waldemar Fromm untersucht die Bedeutung des Ähnlichen im Umkreis der Jenaer Frühromantik, Gerald Funk demonstriert, wie in Baudelaires "Correspondances" die Formulierung einer Poetik des Ähnlichen mit ihrem Vollzug zusammenfällt. Michael Pauen erläutert Mallarmés Lehre vom Ähnlichen, Markus Bauer die Sympathie des Surrealismus für eine Ästhetik unsinnlicher Ähnlichkeit und Joachim Renn Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit. In der Erkenntnistheorie Paul Valérys sieht Gert Mattenklott einen gangbaren dritten Weg zu den bislang dominanten Alternativen von Hermeneutik und Dekonstruktion. Jean-Christophe Ammann analysiert Jochen Flinzers "53 Wochen Glück" und Christina Scherer die Bedeutung der Ästhetik des Ähnlichen für den neueren Film am Beispiel von Jean-Luc Godards "JLG/JLG".

Titelbild

Gerald Funk / Gert Mattenklott / Michael Pauen (Hg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
224 Seiten, 13,20 EUR.
ISBN-10: 3596150035

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