Beichte, Folter und Blutopfer der postmodernen Frau

Henriette Burmanns Studie zu Galanterieritualen nach deutschen Etikette-Büchern

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der unter anderem von Barbara Duden und Judith Butler ausgetragene Streit um die "materielle Basis der Kategorie Geschlecht" sei eine "Glaubensfrage", an der sie sich nicht "abarbeiten" wolle, erklärt die Wirtschaftssoziologin Henriette Burmann in ihrer Untersuchung zu "Galanterieritualen nach deutschen Etikette-Büchern", die im Jahre 2000 unter dem Titel "Die kalkulierte Emotion der Geschlechterinszenierung" erschienen ist. Dennoch kann sich die Autorin eines Glaubensbekenntnisses nicht enthalten. Es macht deutlich, wie wenig sie von den "dekonstruktivistischen Parodien auf die Geschlechter" hält. Diese ließen die Geschlechterordnung "relativ unangetastet" und verstellten zudem "den Blick auf die Fundamente der Geschlechtsidentität", bei denen es sich nun mal um den Körper handele, der mehr sei als ein bloßer "diskursiver Effekt". Solche Stellungnahmen lässt sie en passant und fast unvermerkt einfließen. Ihr eigentliches Interesse gilt etwas anderem: dem "Modus der ritualisierten Geschlechterbeziehung" seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Ungeachtet ihres strittigen Bekenntnisses in "Glaubensfragen" kommt Burmanns Studie in dieser Frage zu beachtenswerten Ergebnissen.

Der Untersuchung liegt eine umfangreiche Materialbasis von etwa 170 Etikette- und Anstandsbüchern der letzten 250 Jahre zugrunde. Diesem ansehnlichen Fundus steht als Manko gegenüber, dass andere Quellen oft nach der Sekundärliteratur zitiert werden, so etwa Schriften der Philosophen Rousseau und Kant. Das führt trotz der grundsätzlich gut belegten und überzeugenden Analyse zu gelegentlichen Ungenauigkeiten. Zwar ist es richtig, dass Kant gegen gelehrte Frauen wie "Frau Dacier" oder die "Marquisin von Castelet" polemisiert, sie mögen "immerhin noch einen Bart dazu haben". Doch hat der Königsberger Transzendentalphilosoph hierbei keine "Maskerade" im Sinn. Und Helmuth Plessner unterscheidet nicht zwischen "Leib sein" und "Leib haben", wie die Autorin meint, sondern zwischen "Leib sein" und "Körper haben". Doch betreffen solche Mängel eher randständige Details.

Im zentralen Befund bleibt die Analyse hiervon unbeeinträchtigt und überzeugend. Die von der Autorin unternommene galanteriegeschichtliche "Spurensuche" führt sie zu dem Ergebnis, dass in den "pluralen Strukturen" der Postmoderne die Fähigkeiten und Tugenden der "Weltklugheitslehren" des 17. Jahrhunderts wieder gültig werden, nämlich "zielgerichtetes und erfolgreiches Handeln durch Flexibilität, Menschenkenntnis und Anpassung an Ort, Person und Zeit".

Offenbar, so Burmann weiter, sei gerade die Geschlechterbeziehung auch in der Postmoderne noch immer "ritualbedürftig". Trotz zunehmender Individualisierung sei sie wie keine andere Beziehungsstruktur durch Emotionalität, Abhängigkeit, Verletzungsgefahr und "Routinisierung" sowie dem Problem der "Ausbalancierung von Nähe und Distanz" charakterisiert. Daher wiesen die Empfehlungen gegenwärtiger "Anstandsliteraten" nicht etwa auf "Beliebigkeit und ungebremste Spielfreude" hin, sondern belegten vielmehr ein "erhöhtes Risiko, in der Öffentlichkeit mangelnder Selbstkontrolle überführt zu werden".

Auch seien die "Ungleichheitsstrukturen" zwischen den Geschlechtern in der Postmoderne keineswegs verschwunden. Vielmehr seien sie in die "Verantwortung des Individuums" gestellt, das die Status- und Geschlechtergrenzen durch kluges und zweckrationales Handeln zu überwinden habe. Dabei deuteten "alle Anzeichen" darauf hin, dass "der Weg der Rationalisierung und scheinbaren Egalisierung zwischen den Geschlechtern" ebenso wie in früheren Epochen auch in der Postmoderne über die "Angleichung an die männliche Norm" führe. Anhand einer Reihe von Beispielen belegt die Autorin, dass die vermeintlich zunehmende Gleichheit zwischen den Geschlechtern unter "androzentrischen Vorzeichen" steht. So habe es sich etwa bei den inzwischen veralteten Ritualen des Friedens- und des Handkusses ebenso wie bei dem heute üblichen Händeschütteln um ursprünglich "männliche Gesten" gehandelt, die erst nach und nach "auf Frauen übertragen" worden sind. Es finde also nicht eine "Amalgamierung" der Geschlechterrituale statt, sondern eine "Angleichung der Frauen an die männliche Norm" bei gleichzeitiger Beibehaltung der Geschlechterhierarchie durch "neue, subtile Codes der Geschlechterinszenierung", die nicht zuletzt davon getragen werde, dass die "in geschlechtsspezifischer Weise an Sexualmoral" geknüpfte Scham auch in der Postmoderne die "zentrale Verhaltenskategorie" für Frauen - und nur für Frauen - bleibe. Darüber hinaus entpuppt sich deren vermeintliche Befreiung in verschiedenen Bereichen als verschärfte Disziplinierung, wie Burmann am Beispiel der "Befreiung der Frau vom Korsett" zeigt, die mit der Disziplinierung des nun dem männlichen Blick ausgesetzten Körpers als "Symbol für Status und Vitalität" erkauft wurde. Das habe die Frauen zunächst in Fitnessstudios und schließlich in den Operationssaal des Schönheitschirurgen getrieben, dessen "profane Handlung", so die Autorin mit Angelica Ensel, sakral aufgeladen sei und die Assoziation mit "Blutopfern und Passageritualen" nahe lege. Die "Wahrheitsproduktion im OP" sei als "Fortführung der Beichte (inklusive Schweigeverbot) mit anderen Mitteln" zu lesen. Somit kehre die postmoderne Frau zu "Beichte, Folter und Blutopfer" zurück.

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Henriette Burmann: Die kalkulierte Emotion der Geschlechterinszenierung. Galanterierituale nach deutschen Etikette-Büchern in soziohistorischer Perspektive.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2000.
264 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3879407045

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