Im Schatten des Schleiers

Deborah Ellis erzählt die Geschichte eines afghanischen Mädchens

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie angenehm, das Gesicht in die erste Frühlingssonne zu halten, zu fühlen, wie ihre wohltuenden Strahlen die Wangen wärmen, und ihre lebensspendende Kraft einzusaugen. Den Frauen im Herrschaftsbereich der afghanischen Taliban ist diese Freude nicht gestattet. Sie müssen im Haus bleiben, wo die Fenster mit schwarzer Farbe gestrichen sind, damit - so die Begründung der Taliban - kein Mann außer ihrem Gatten einen Blick auf sie werfen kann. Wenn sie aber doch schon mal auf die Straße gehen dürfen, was überhaupt nur in Begleitung eines männlichen Verwandten erlaubt ist, so sind sie gezwungen, eine sogenannte Burka zu tragen, ein mehrere Kilogramm schweres, sackartiges 'Kleidungsstück', das die Frauen vom Scheitel bis zu den Füßen verdeckt, da ihre Körperumrisse nicht als menschliche erkannt werden dürfen. Selbst die kleinen Augen'fenster' sind engmaschig vergittert, so dass die Frauen kaum etwas sehen können und oft stolpern oder sogar hinfallen. Hören können sie unter dem dicken Stoff soundso nicht viel.

Parvana hat da noch Glück - vorläufig wenigstens -, denn sie ist erst elf Jahre alt, und in diesem Alter geben sich die Taliban noch damit zufrieden, wenn sie einen Tschador trägt, der wenigstens ihr Gesicht frei lässt. In ihrem Jugendbuch "Die Sonne im Gesicht" erzählt die kanadische Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Deborah Ellis, die lange in afghanischen Flüchtlingslagern gelebt hat, einen Sommer aus dem Leben Parvanas am Ende der 90er Jahre. Das Mädchen wohnt mit ihrer ganzen Familie, zwei Schwestern, einem Baby und den Eltern, in einem einzigen Raum. Früher war das anders: Da besaßen sie ein schönes Haus, denn die Eltern verdienten beide gut, der Vater als Lehrer und die Mutter als Journalistin. Doch das ist schon so lange her, dass Parvana sich nicht mehr daran erinnern kann. Sie weiß es nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und ihrer großen Schwester. Vorstellen kann sie es sich allerdings nicht. Nun ist jedenfalls alles anders, denn ihr Vater hat vor längerer Zeit seine Stelle verloren. Seitdem muss er sich auf den Markt setzen und sehen, dass er ein wenig Geld verdient, indem er den Menschen, von denen die meisten Analphabeten sind, Briefe vorliest und Antworten für sie aufsetzt. Da das nicht einmal zum Nötigsten reicht, wird nach und nach das letzte Hab und Gut der Familie verkauft. Natürlich ist Vater der Einzige, der Geld verdient, denn die Taliban haben Frauenarbeit verboten. Überhaupt ist vieles untersagt, im Grunde genommen sogar fast alles. Die meisten Verbote gelten allerdings nur für Frauen. Aber vieles dürfen auch Männer nicht. Fernsehen zum Beispiel ist allen verboten, ebenso Musik hören oder Photographieren. Und es gibt sogar ein spezielles Verbot für Männer: Sie dürfen sich nämlich nicht rasieren, was aber vergleichsweise harmlos ist.

Da der Vater durch eine Landmine einen Fuß verloren hat und alleine nicht gehen kann, begleitet ihn Parvana jeden Tag zum Markt. Als er eines Tages von den Taliban ins Gefängnis geworfen wird, weil er im Ausland studiert hat, wissen Parvanas Mutter und die Mädchen nicht, wie es nun weitergehen soll. Bis schließlich die Idee aufkommt, dass Parvana sich als Junge verkleidet. Denn nur so kann sie auf den Markt gehen und wie ihr Vater Geld nach Hause bringen. Gesagt, getan. Ein Taliban lässt sich eines Tages von ihr einen Brief vorlesen, und muss dann um seine verstorbene Frau weinen. Parvana, die die Taliban immer nur als Menschen kennen gelernt hat, die alle und jeden terrorisieren, ist so verwundert darüber, dass sie auch später noch an ihn denken muss. Doch nicht nur dem weinenden Taliban begegnet sie und einer geheimnisvollen Frau, die ihr heimlich kleine Geschenke macht. Vor allem trifft sie eine Klassenkameradin wieder - genauer gesagt eine ehemalige, denn natürlich dürfen Mädchen nicht mehr zur Schule gehen, seit die Taliban herrschen. Sie hat sich ebenfalls als Junge verkleidet und verkauft nun Tee. Obwohl die beiden früher nicht besonders viel miteinander zu tun hatten, werden sie nun bald dicke Freundinnen.

Ellis erzählt den oft grausamen Alltag aus der Sicht Parvanas mit der lapidaren Selbstverständlichkeit, die ein Kind wohl haben muss, das nur den Krieg kennt und das unter einer patriarchalisch-religiösen Tyrannei leben muss. Der religiöse Aspekt der Taliban-Herrschaft wird allerdings kaum angesprochen. Nur einmal erklärt der Vater Parvana, eigentlich sei Religion dazu da, "den Menschen zu helfen, menschlicher, freundlicher und glücklicher zu werden". Die Schwierigkeit, einerseits die brutale und grausame Realität des Lebens unter den Taliban nicht zu verharmlosen, die Lektüre aber andererseits für die LeserInnen, die ja überwiegend in Parvanas Alter oder ein wenig darüber sein dürften, nicht allzu bedrückend zu machen, wird von der Autorin dadurch gemeistert, dass sie den Blick des afghanischen Kindes konsequent beibehält und die oft furchtbaren Geschehnisse durch immer wiederkehrende Kabbeleien zwischen Parvana und der 17-jährigen Schwester abfedert, wie sie wohl jedes Kind kennt, das Geschwister hat. Auch gelingt es der Autorin zu zeigen, dass es trotz allem immer wieder lustig zugeht und es sogar kleine Momente des Glücks gibt, wenngleich diese auch brutal zerstört werden können. Wie es etwa geschieht, als der Vater von den "Talib" aus dem Haus geschleppt wird.

Am Ende des Buches beteiligt sich Parvanas Mutter, die sich vor der Taliban-Herrschaft als Frauenrechtlerin engagiert hatte, nach langer Zeit der Resignation an einer illegalen Frauenzeitschrift - und ihr Vater ist aus dem Gefängnis freigekommen. Aber nun sind Parvanas Mutter und ihre Schwester in höchster Gefahr, von den Taliban ermordet zu werden. Alles bleibt in der Schwebe, nichts ist gut, aber immer besteht Hoffnung - für die man natürlich etwas tun muss - und vielleicht trifft man sich in zwanzig Jahren auf dem Eiffelturm wieder.

Titelbild

Deborah Ellis: Die Sonne im Gesicht. Jugendbuch.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna Melach.
Jungbrunnen Verlag, Wien 2001.
126 Seiten, 13,20 EUR.
ISBN-10: 3702657355

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