Im Kaufhaus der Kulturen

Zu Terry Eagletons scheinbarer Einführung "Was ist Kultur?"

Von Gustav MechlenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Mechlenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Täglich spiegeln Zeitungen unsere Vorstellung von der Welt wider. Nicht unbedingt, was den Inhalt angeht, aber doch in ihrem Aufbau. Sie beginnen mit dem Politikteil, gefolgt von Wirtschaft, Gesellschaft oder Sport, gelegentlich kommen noch Lokales oder Berichte aus der Wissenschaft hinzu. Und dann darf selbstverständlich das Feuilleton nicht fehlen. Doch würden wir wirklich etwas vermissen? Was ist es eigentlich, was in den Texten über Literatur, Musik, sonstiger Kunst oder Theorie behandelt wird? Welche Lücke lassen die anderen Systeme zurück, in die Kultur einspringt? Wer so fragt, erklärt Kultur von vornherein zu einer Art Ersatzreligion. Mit Marx müsste man nach den entfremdenden gesellschaftlichen Verhältnissen Ausschau halten, um das Bedürfnis der Menschen an solcherlei Befriedigung erklären zu können. Und tatsächlich könnte man das neue Buch "Was ist Kultur?" des englischen Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton in dieser Hinsicht verstehen. Es geht in diesem schmalen, gerade einmal 190 Seiten umfassenden Werk nicht um eine detaillierte wissenschaftliche Behandlung des Begriffs, was auch aus dem verhältnismäßig geringen Umfang an Zitaten und Anmerkungen abzulesen ist. Vielmehr versucht Eagleton, Kultur als eine gesellschaftliche und politische Variable zu bestimmen. Um dies zu zeigen, springt er virtuos zwischen verschiedenen klassischen und zeitgenössischen Definitionen hin und her. Nur in groben Zügen wird ein Überblick über die Geschichte des Begriffs gegeben, um desto rascher zu dem eigentlichen Thema dieser Studie zu gelangen. Nämlich die aktuellen Diskurse über Globalisierung und Ethnizität, Mehrheits- und Minderheitenkultur, Religion und Säkularismus, in der die unterschiedlichen Bedeutungen von Kultur als Politikum Verwendung finden.

Zunächst ist Kultur immer die Idee vom Anderen. Wie Eagleton einleuchtend zeigt, gewinnt der Begriff Kultur erst dann an Bedeutung, wenn sie selbst fragwürdig wird. Erst wenn die Struktur traditioneller Rollen die Gesellschaft nicht mehr zusammenzuhalten vermag, "springt Kultur im Sinne einer Gemeinsamkeit der Sprache, des Erbes, des Bildungssystems, der Werte und dergleichen ein". Die Verwendung des Begriffs Kultur zeugt somit von einem Problembewusstsein, aufgeworfen entweder durch den Blick auf eine exotisch anmutende fremde Welt oder durch direkte Konfrontation mit einer anderen Gesellschaft oder Gruppe. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die erste Hochphase des Begriffs in die Zeit der Aufklärung fällt. Der anthropologische Blick in die Geschichte und nach Übersee, wie er in diesem Ausmaß erstmals im 18. Jahrhundert aufkam, erzeugte Verunsicherung und utopische Hoffnung in gleicher Weise. Konnten anfangs neben Kultur Zivilisation und Aufklärung noch als Synonyme gelten, die für einen allgemein angenommenen Emanzipationsprozess standen, war die Spannung zwischen diesen Begriffen jedoch mit fortwährender Uneingelöstheit der Utopie auf Dauer nicht zu leugnen.

Zivilisation mit seinen abstrakten politisch-technischen Konnotationen hatte bald einen imperialistischen Beigeschmack bekommen. Dagegen stand Kultur im Sinne einer "organischen Lebensform", wie man sie aus den Studien anderer Völker entdeckt hatte, und wurde zur romantischen Kritik am frühen Industriekapitalismus sowie am Kolonialismus. Für die Aufklärung andererseits bedeutete Kultur "jene regressive Bindungen, die uns daran hindern, unser Weltbürgertum wahrzunehmen". Diese dem Kulturbegriff von Anfang an innewohnende Dialektik verschärft sich in Zeiten zunehmender Globalisierung. Die linke Analyse hierzu ist hinreichend bekannt und klingt bei Eagleton mitunter recht platt. So heißt es: "Die räuberischen Aktionen des Kapitalismus züchten als Gegenreaktion eine Vielzahl von geschlossenen Kulturen, die von der pluralistischen Ideologie des Kapitalismus dann als reiche Vielfalt der Lebensformen gefeiert werden können." Oder an anderer Stelle: "Auf jeden Schwall Pariser Parfüms in Tokio kommt ein junger Skinhead oder ein reiferer komunitarischer Philosoph."

Die "Kulturkriege", wie Eagleton es in ungewohnt scharfem Ton formuliert, werden dabei an drei Fronten geführt: Auf der einen Seite steht "KULTUR" als Zivilisiertheit (Eagleton setzt sie zur Unterscheidung in Großbuchstaben). Ihr gegenüber stehen Kultur als Identität, die dem Ethos der Solidarität und Eigentlichkeit verpflichtet ist, und schließlich die postmoderne oder zur Ware gewordene populäre Kultur. Alle drei liegen im Streit miteinander, beeinflussen sich aber auch gegenseitig. Wer es genau nimmt, findet auch noch einen vierten Kulturbegriff bei Eagleton, den der Opposition. Die Crux liegt im Kulturbegriff selbst, er ist zu unbestimmt. Die Ausgangsthese lautet daher, "dass wir im Augenblick zwischen einem entmutigend weiten und einem quälend engen Kulturbegriff gefangen sind und es unser vordringlichstes Ziel auf diesem Gebiet sein muss, über beide hinauszugelangen". Denn zurzeit scheinen wir zwischen einem leeren Universalismus und einem blinden Partikularismus hin- und hergerissen zu sein.

Den eigentlichen Ursprung der kulturellen Konflikte will Eagleton in der fatalen Allianz von postmodernem Relativismus und prämodernem Essenzialismus ausmachen. Seine Kritik an der Postmoderne hatte Eagleton in "Die Illusion der Postmoderne" bereits ausführlich dargestellt. Der Fehler liegt seiner Meinung nach in der Überbewertung der Kultur für politische Zwecke. Subkulturen protestieren gegen die Entfremdung der Moderne und reproduzieren diese zugleich durch ihre eigene Zersplitterung. Identitätspolitik kann demnach leicht in aggressive Selbstbehauptung umschlagen. "Vom Standpunkt der KULTUR aus sind die Gemeinsamkeiten zwischen einer Gruppe für Schwulenrechte und einer neofaschistischen Zelle frappierend, weil beide ihre Kultur als kollektive Identität definieren." Das Paradoxon der Identitätspolitik besteht darin, dass man eine Identität benötigt, um sich berechtigt zu fühlen, sie ablegen zu wollen. "Wie alle radikale Politik tendiert auch die Identitätspolitik dazu, sich selbst abzuschaffen: Frei ist man, wenn man sich nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen braucht, wer man ist. In diesem Sinne entspricht der Zweck nicht den Mitteln, wie in der traditionellen Klassenpolitik."

Es ist die alte Frage nach dem Projekt der Moderne. Entgegen den Postmodernisten, für die Emanzipation einer diskreditierten Moderne mit ihren liberalistischen Großerzählungen angehört, hält Eagleton an diesem Projekt weiterhin fest. Für ihn kann es auch heute keine politische Emanzipation geben, "die nicht auf irgendeiner Ebene der Aufklärung verpflichtet ist, sosehr sie sich an dieser Herkunft stören mag". Die Schwierigkeiten, die sich aus ungleichen Diskurszugängen ergeben, werden allerdings nicht verschwiegen. "Diejenigen aber, die ausgeschlossen worden sind, müssen notgedrungen als unzivilisiert erscheinen, da ihr Kampf um Anerkennung oft kollektive oder militante Formen annimmt, die für eine liberale Kultiviertheit degoutant sind. Daraus folgt, daß der Ausschluß dieser Gruppen desto gerechtfertigter erscheint, je lautstärker sie gegen ihren Ausschluß protestieren. Man sollte aber im Kopf behalten, daß es andere, weniger bewunderungswürdige Aspekte liberaler Kultiviertheit waren, die ihnen diese Militanz zuallererst aufgezwungen haben. Kulturen, die um Anerkennung kämpfen, können es sich in der Regel nicht leisten, differenziert oder selbstironisch zu sein, und für diesen Mangel muß man diejenigen verantwortlich machen, die sie unterdrücken."

Nach Eagleton sind die eigentlich anstehenden Probleme materieller Natur, sei es Krieg, Hunger oder Umweltverschmutzung. Sie sind ausschließlich mit politischen Mitteln zu lösen. Kultur kann dabei nur eine untergeordnete Rolle spielen. "Wir haben gesehen, daß Kultur neue politische Wichtigkeit gewonnen hat. Aber gleichzeitig ist sie auch unbescheiden und überheblich geworden. Es ist an der Zeit, sie bei aller Anerkennung ihrer Bedeutung auf den ihr gebührenden Platz zu verweisen." Allerdings, und hier ist Eagleton nach wie vor Idealist, bleibt die Kunst. Ist sie auch utopisch und elitär, so transportiert sie doch vielleicht noch am unverfänglichsten die universell geltenden Werte der Aufklärung. "Was ist der künstlerische Kanon anderes als eine Sammlung irreduzibel individueller Werke, die gerade durch ihre Einzigartigkeit vom gemeinsamen Geist der Menschheit künden."

Der deutsche Verlag spricht von einer intellektuellen Lockerungsübung. Im Sport dient eine Übung der Vorbereitung für eine nachfolgende sportliche Leistung. Wie die eigentliche intellektuelle Leistung aussehen könnte, zu der Eagletons irreführend als Einführung titulierte Schrift führen soll, bleibt mehr als fraglich. Denn so richtig es ist, den Missbrauch an und mit der Kultur anzuprangern, so nötig wäre es, Lösungsvorschläge dafür zu geben, wie die existierenden kulturellen Probleme politisch anzugehen sind. Auch wenn wir das nächste Mal die Zeitung aufschlagen, werden wir den Kulturteil wohl kaum vermissen müssen. Ein nüchterneres Verhältnis ihm gegenüber ist nach dieser Lektüre jedoch gewiss.

Titelbild

Terry Eagleton: Was ist Kultur?
Übersetzt aus dem Englischen von Holger Fliesbach.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
190 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3406480993

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch