Wer liefert eigentlich was?

Eine neue Ausgabe der "Scheidewege"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit ihrem ersten Erscheinen im Jahr 1971, als Friedrich Georg Jünger und Max Himmelheber die "Scheidewege" als Vierteljahresschrift gründeten, beleuchtet die Zeitschrift die globale Krise aus allen erdenklichen Perspektiven. Aber die Beiträger richten ihr Augenmerk nicht nur auf die ökologisch-geistigen Folgekosten unserer blindwütigen Fortschrittsmanie, sondern ebenso auf konkrete Verlusterfahrungen. Trotzdem dürfte der naheliegende Vorwurf, hier werde das Heute durch eine rückwärtsgewandte Glorifizierung des Gestern denunziert, ins Leere greifen: Es gibt diese qualitativen Übergänge zwischen einer älteren und einer modernen Lebensweise (und den damit verbundenen Kulturtechniken), und sie sind beschreibbar. Ich greife willkürlich heraus: Jürgen Dahls kleinen Essay "Wer liefert eigentlich was?". Es ist etwas völlig anderes, so zeigt dieser Text, wenn man, wie Dahl es tut, einen schweren Band der insgesamt achtbändigen und in dunkelblaues Kaliko gebundenen Ausgabe des Werks "Wer liefert was?" auf den Knien balanciert, während man die übrigen sieben als veritablen Hocker benutzt; - es ist etwas völlig anderes, ob man auf diese Weise in das eigensinnige Universum der Dinge von "Wer liefert was?" eintaucht - oder ob man eben diese Ausgabe via Mausklick am Computer-Bildschirm durchblättert und dabei dem hysterischen Zwitschern einer CD-ROM lauscht. Multimedia, Massenkommunikation, Neuer Markt, sie alle erschaffen sich die Zwecke zu ihren Mitteln - so wie derjenige, der sich leichtfertig ein Handy angeschafft hat, plötzlich den Wunsch zu telefonieren verspürt. Man muss sich auf solche Kippfiguren einlassen, skeptisch gegen den fortschrittsfreudigen Strich denken, dann offenbart sie sich plötzlich, die "Vorherrschaft des Bekloppten in allen Bereichen" (Dahl).

Mehr noch als das Überkommene erscheint den Herausgebern der "Scheidewege" deshalb unser zielblindes Machbarkeitsdenken als fragwürdig: "Jeden Tag verändert sich die Welt, in der wir leben, ganz allmählich, bis sie, nach zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren, für jeden unverkennbar eine andere geworden ist. Es geht weiter: mit der Globalisierung, dem damit verbundenen Verlust von Heimat, dem Um- und Abbau des Sozialstaates, der Hetze gegen ,Asylanten' und ,Sozialschmarotzer', weiter mit der technischen Aufrüstung, der medizinischen und biologischen Forschung, getrieben von der Sehnsucht nach Unsterblichkeit, weiter mit der Naturzerstörung, mit Menschenrechtsverletzungen, Krieg und Folter." Doch die Welt verändert sich nicht nur, sie wird auch kälter. Ein Stück Wärme wird man ihr nur durch Rückkehr zu einem eigenen Rhythmus des Erlebens, zu einem bedächtigeren Umgang mit Menschen und Dingen zurückerstatten können. Aus diesem Grund ist auch die Frage, wer eigentlich was liefert (schöne alte Gegenstände wie die Aalreuse oder den Heurechen, wundersame wie die Briefumschlagfenstereinklebemaschine, aber auch moderne wie das Kernkraftwerk) von weitaus größerem Interesse als alle Verlockungen unserer digitalen Ersatzwelten zusammen. Wer, auf diese Weise eingestimmt, einen der gestandenen "Scheidewege"-Bände aufgeschlägt, dem werden Augen und Ohren aufgehen: über Erwin Chargaffs Beitrag wider den Reduktionismus der Naturwissenschaften, über Heinz Theisens Bemerkungen zum Leitbild der Nachhaltigkeit oder - ich feuchte den Finger an und blättere um - über Ziad Mahaynis Beitrag über die Phänomenologie des Wassers.

Titelbild

Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken. 31. Jahrgang 2001/2002.
Max-Himmelheber-Stiftung, Baiersbronn 2001.
420 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3925158170
ISSN: 00489336

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch