Aus der Zeit herausgefallen

Ein Gespräch mit Günther Rühle zum 100. Geburtstag von Marieluise Fleißer

Von Anja FröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Fröder

Am 23. November 2001 wäre die bayerische Prosa- und Dramenautorin Marieluise Fleißer 100 Jahre alt geworden. Gerade einmal Mitte zwanzig, reüssierte die Studentin - ihre Förderer hießen Feuchtwanger und Brecht - in Berlin mit ihrem ersten Theaterstück, die Kritik wurde auf sie aufmerksam. Nach 1933 zwangen sie die politischen Umstände zurück in die heimatliche Provinz: Ingolstadt hieß das Gefängnis. Dort lebte sie ein unauffälliges kleinbürgerliches Leben, das sie auch nach 1945 fest im Würgegriff hielt und einen Neuanfang unmöglich machte. Erst als über 60-Jährige überwand sie die beengenden persönlichen Lebensumstände und trat erneut an die literarische Öffentlichkeit. Franz Xaver Kroetz, Martin Sperr und Rainer Werner Fassbinder bekannten sich zu ihr, der Suhrkamp Verlag bemühte sich um ihr Werk. Höhepunkt der 'Fleißer-Renaissance' bildete die 1972 dort herausgegebene dreibändige Gesamtausgabe ihrer Arbeiten. Jedoch sollte sie nur kurz in den Genuss des späten Erfolgs kommen: Anfang 1974 starb sie nach längerer Krankheit.

Günther Rühle, Herausgeber der Gesammelten Werke, der auch den gerade im Suhrkamp Verlag erschienenen Briefband mit der Korrespondenz Fleißers aus den Jahren 1925 - 1974 ediert hat, äußert sich in einem Gespräch anlässlich des Fleißer-Jubiläums zur Verwirklichung der Gesamtausgabe und ihrer Bedeutung für die Autorin. Rühle, Jahrgang 1924, leitete von 1974 - 1985 das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen, war 1985 - 1990 Intendant am Schauspiel Frankfurt, danach Feuilletonchef beim Tagesspiegel. Seit 1995 ist er als freier Publizist tätig.

Mir stellte sich als Allererstes die Frage, weshalb sich der Verlag, oder vielmehr Siegfried Unseld, dazu entschlossen hat, Marieluise Fleißer in den Suhrkamp Verlag aufzunehmen. War dafür ihre Bekanntschaft mit Brecht ausschlaggebend, im Sinne einer Verlagsphilosophie, die dazu führt, den literarischen Bereich um Brecht abzudecken?

Ich weiß gar nicht, ob man das damals wirklich wusste.

Sie meinen 1966, als Karlheinz Braun den ersten Kontakt zu Fleißer aufgenommen hatte?

Nun, es gab eine alte Beziehung von Marieluise Fleißer zum S. Fischer Verlag, der damals unter Suhrkamps Namen noch von Peter Suhrkamp geleitet wurde. Sie wurde 1946 sofort tätig, um wieder an die Öffentlichkeit zu kommen. Damals schrieb sie an Peter Suhrkamp und schickte ihm eine Erzählung. Suhrkamp antwortete, er hätte darin den alten Fleißer-Ton aus den zwanziger Jahren wiedergefunden. Sie solle ihm noch mehr schicken, und er wolle sehen, ob man daraus ein Bändchen machen könne. Das hat Fleißer aber nicht geschafft, und somit blieb es liegen. Sie ging dann später zum Carl Hanser Verlag, war dort aber absolut enttäuscht, weil "Avantgarde", diese tolle Abrechnung mit Brecht, nicht verkauft wurde. Wie Sie wissen, wurde das Buch nachher verramscht.

Haben Sie das Gefühl, dass das an der fehlenden Tätigkeit des Verlages lag, so wie sie es später beschreibt und weshalb sie dann von Hanser weg wollte?

Sicher nicht nur; Fleißer war ja tatsächlich bis zum Jahr 1966 ziemlich vergessen, die Wende fing langsam 1966 an, als die Schaubühne Berlin, damals noch nicht unter Peter Stein, den "Starken Stamm" inszenierte.

Sie wollte seit langem zu Suhrkamp, weil Brecht da war und weil die jungen Leute da waren. Sie hatte ein großes Verlangen nach dem Krieg, mit der neuen Literatur wieder in Verbindung zu kommen, also nicht nur durch die zwanziger Jahre abgestempelt zu werden. Die Inszenierung erwies sich für neuerliche Kontaktversuche sehr hilfreich, weil sie zum ersten Mal wieder auf sie aufmerksam machte. So kam sie mit Karlheinz Braun vom Suhrkamp Theater Verlag in Verbindung und machte ihm klar, dass Brecht unheimlich viel für sie getan hat. Wenn man sich anschaut, wer von den vielen Schriftstellern, mit denen sie Umgang hatte, etwas für sie getan hat, dann war es wirklich nur Brecht. Er hat ihr "Fegefeuer" damals 1926 auf die Bühne gebracht, dann war da seine horrende Inszenierung der "Pioniere in Ingolstadt" 1929, und 1950 hat er den "Starken Stamm" in München durchgesetzt. Immer wenn sie in Not war und an Brecht geschrieben hat, hat er sofort reagiert.

Aber das ist ein anderes Kaptitel. Also, sie wollte immer zu Suhrkamp. Der Verlag erlebte ja in den sechziger Jahren, etwa um 1963/64, seine große Expansion. Siegfried Unseld hatte die Leitung übernommen, und sie spürte, dass da etwas für die Autoren getan wurde. Aus diesem Grund wollte sie dort unbedingt hin. Zunächst lief das nur über den Theaterverlag, obwohl sie sehr unzufrieden mit ihren Stücken war, vor allem mit den "Pionieren in Ingolstadt".

Damit war der Anfang gemacht. Im Jahr 1971 wurde sie siebzig, und ab da ging es richtig los. Zuvor gab es im Jahr 1970 einige Aufführungen von den "Pionieren in Ingolstadt" in der neuen Fassung, und Fassbinder hatte mit seiner eigenen Fassung der "Pioniere", der Fernsehfassung, Aufmerksamkeit erregt. Diese geht auf seine Theaterinszenierung in München zurück, "Zum Beispiel Ingolstadt" hieß das damals. Damit war ihr Name plötzlich wieder bekannt geworden.

Das betraf aber nur interessierte Theaterkreise, also keine breitere literarische Öffentlichkeit?

Nein, überhaupt nicht, das lief alles nur im Focus Theater ab. Die Fassbinder-Geschichte brachte allerdings zum Vorschein, dass dieses bayerische Trio Kroetz, Sperr und Fassbinder in einer ganz merkwürdigen Koinzidenz Marieluise Fleißer erkannt hatte als: Das ist ja etwas.

Es war damals Mitte der sechziger Jahre ein ganz erstaunliches Zusammentreffen. Drei junge begabte Leute tauchten auf und beleuchteten die Provinz, den unaufgeklärten Teil der Gesellschaft.

Man liest häufig, dass die Fleißer-Renaissance eigentlich zunächst über die Beschäftigung mit Ödön von Horváth eingeleitet wurde, dass man ihn für das Neue Volksstück wieder entdeckt hat und über diesen Umweg dann auf Fleißer stieß.

Das ist nicht ganz falsch, diese These habe ich auch schon vertreten. Die Sache war so: 1966 gab es den berühmten Handke-Text gegen Brecht für Horváth. Und in den Fleißer'schen Briefen gibt es zwei, drei Anmerkungen zu Horváth. Einmal: Der wird mich ausstechen, denn der ist leichter, der macht es halt so mit einem 'Hui'. Aber sie sieht natürlich, dass dieser Bursche etwas kann. An anderer Stelle heißt es: Von Horváth nimmt sie was mit, sie weiß noch nicht was. Und natürlich ist Horváth ein Bindeglied. Die Aufführung seiner Stücke begann mit der "Italienischen Nacht". Dann ging es weiter mit "Kasimir und Karoline" in diese Provinz hinein.

Der wirkliche Durchbruch für Fleißer kam, als Horst Laube das "Fegefeuer" in die Hand bekam und an seiner Wuppertaler Bühne die Inszenierung bewirkte.

Wissen Sie, wie Laube damals auf dieses Stück gestoßen ist, wie er darauf aufmerksam wurde? Es lag ja bis dahin nicht in gedruckter Form vor.

Fleißer selbst hatte noch ein einziges Exemplar. Ich traf sie damals, als ich mit ihr ein Interview anlässlich ihres siebzigsten Geburtstages in Ingolstadt machte. Dabei kamen wir ins Plaudern, und wir sprachen auch über alte Rezensionen ihrer Stücke. Ich arbeitete damals an "Zeit und Theater", eine Kompilation von Stücken mit Kommentaren, dafür wollte ich "Fegefeuer in Ingolstadt" haben. Es war ein ziemlich harter Kampf und sie musste erst lange suchen, bis sie das Manuskript gefunden hatte. Sie besaß nur eine sehr schlecht leserliche Abschrift dieser Fassung, die damals nur ein einziges Mal aufgeführt worden war.

Erst im Nachhinein erfuhr ich, dass Horst Laube ebenfalls auf das Stück aufmerksam geworden war, er hatte von dessen Existenz durch die Kritiken-Sammlung "Theater für die Republik" Kenntnis bekommen. Mit der Wuppertaler Aufführung kam dann der große Durchbruch, denn es ist ohne Frage das bessere Stück. Es kam darin etwas zum Vorschein, diese Enge der Provinz, die in keinem der Stücke der Jungen so enthalten war und noch mehr, nämlich Poesie und Hintergrund, was diese gar nicht mehr besaßen. Dies war ihr großer Durchbruch im Jahr 1971. Es verdichtete sich etwas, und sie selbst sagte: 1972 wird ein Fleißer-Jahr. Dann wurde Siegfried Unseld aufmerksam.

Ist es tatsächlich so, wie Fleißer selbst einmal schreibt, dass sie das Erscheinen ihrer "Gesammelten Werke" der Aufforderung Franz Xaver Kroetz' in seinem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" anlässlich ihres siebzigsten Geburtstages zu verdanken hat? Kann man das so naiv sagen?

Ja, das kann man ganz einfach so sagen, ganz naiv. Ich fragte sie damals, als ich sie zur Vorbereitung meines Aufsatzes besuchte, was sie sich für ihr weiteres Leben noch wünsche? Sie antwortete mir, dass sie ihr ganzes Werk gerne einmal gesammelt vorliegen sehen würde.

Dann erschien mein Aufsatz in der F. A. Z. sowie jener von Kroetz in der SZ, und das erregte Unselds Aufmerksamkeit. Da er begierig war, alles zu sammeln, was mit Brecht zusammenhängt - er hat erst damals begriffen, dass es diesen engen Zusammenhang zwischen Fleißer und Brecht gab -, wollte er sich das genauer überlegen. Es gibt diesen berühmten Brief von ihm: "An meinem Jubiläumstag habe ich mich entschlossen...", so in etwa schrieb er ihr da, wie Napoleon. Es ging nun darum, wer das Projekt als Herausgeber betreuen sollte. Ich war vorgeschlagen, und Fleißer damit einverstanden, weil sie mich von unserem Gespräch anlässlich ihres Geburtstags kannte. Dann ging der Stress los, es musste alles sehr schnell gehen.

Hat der Verleger sie wegen der Herausgeberschaft gefragt, als die Entscheidung bereits getroffen war oder schon vorab, ob sie die Idee der "Gesammelten Werke" für sinnvoll und durchsetzbar halten?

Nun, das hat er meinem Aufsatz entnommen, in dem ich sie herausgehoben habe, und es gab diesen Artikel von Kroetz, von dem ich damals nichts wusste. Es war schon sehr ungewöhnlich, dass parallel aus zwei verschiedenen Richtungen so etwas hochkam. Soviel ich mich erinnere, fragte er nur, ob ich zur Übernahme der Herausgeberschaft bereit sei. Und ich sagte sofort zu, weil ich wusste, was die beiden Stücke in der deutschen Theaterszene für eine Rolle gespielt haben.

Daraufhin hat Unseld mit Fleißer gesprochen und ihr ein Angebot gemacht. Sie war davon natürlich begeistert. Es stellte sich die Frage, wann die Ausgabe realisiert werden würde. Letztlich wurde das eine ziemliche Hetze, denn nachdem erst so lange gezögert wurde, musste es auf einmal innerhalb von fünf Monaten stehen.

Unseld schien das sehr schnell durchziehen zu wollen und wurde hinterher davon überrascht, dass die Herausgabe noch sehr viel Überarbeitungen der Texte nötig machte.

Sie sehen das ja in ihren Briefen, wie kritisch und überkritisch sie ihre Texte betrachtete. Sie hatte den Eindruck, sie sei aus der Zeit herausgefallen und müsse sich erst wieder in die neue Zeit hineinschreiben.

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht werden diese Überarbeitungen und Anpassungen an die neue Zeit eher negativ bewertet. Das Werk habe dadurch an Geschlossenheit eingebüßt. Wie sahen Sie das als Herausgeber?

Nun, eine wirkliche literaturwissenschaftliche Gegenüberstellung der alten und neuen Fassungen gibt es in dieser Form ja gar nicht.

Sie sagte, wenn wir das machen, dann müsse sie alles noch einmal überarbeiten. Sie hat ihre Figuren daraufhin durchgesehen, ob sie vorfaschistische Charaktere sind und dies noch verstärkt, sie teilweise später zu Nazis werden lassen. Ich habe sie natürlich darauf hingewiesen, dass manches einfach nur so angehängt ist. Aber sie wollte eben aktuell wirken.

Es war dem Verleger also klar, dass, wenn man die Gesamtausgabe macht, es noch vieler Änderungen und Überarbeitungen seitens Fleißer bedarf?

Ob das Unseld klar war, weiß ich nicht, das müssen Sie ihn selbst fragen.

Wir haben sie gemeinsam in Ingolstadt besucht und alles mit ihr besprochen. Eine Hauptfrage, die mir von Unseld an Fleißer noch im Gedächtnis ist, ist jene, wie Brecht im Bett war. Was die "Gesammelten Werke" betraf, so entschied Unseld sich für deren Verwirklichung. Er gab ihr darauf die Hand und später auch einen ordentlichen Vertrag.

Fleißer scheint, was die vertraglichen Bedingungen angeht, ein harter und zäher Verhandlungspartner gewesen zu sein. In dem Briefwechsel fordert sie Unseld sehr dezidiert auf, ihr einen Vertrag zu annehmbaren Konditionen zu unterbreiten.

Das hat sie bei den Verhandlungen mit Kiepenheuer gelernt, aber das war nur die eine Seite. Wenn man ihr begegnete, war sie eher scheu und schüchtern. Man hatte den Eindruck, sie sei ein Flüchtling. Davontrippelnd und nicht deutlich da, nur deutlich da mit ihren Augen hinter den großen Brillengläsern. Sie war auch wenig eloquent, und man musste sehr bei ihr ziehen. Die Briefe zeigen aber, dass sie in den ganz entscheidenden Dingen sehr fest sein konnte. Wenn es an ihren Kern ging, dann war sie sicher. Das war auch ihr bayerischer Dickkopf.

Wenn also das Existenzielle bei ihr berührt wurde, dann konnte sie auch hart sein, dabei kommt es mir aber so vor, als habe sie damit ihrer eigentlichen Natur zuwider gehandelt. Sie muss zuweilen von regelrechten Existenzängsten getrieben worden sein.

Sie war nach diesem Lebenslauf von Ängsten gepeinigt, fühlte sich nirgendwo in Sicherheit, war immer in Angst, ausgebeutet zu werden - daher ihr flüchtiges Wesen. Man hatte ständig bei ihr den Eindruck, sie würde davonlaufen.

Als ich sie das erste Mal besuchte, wollte ich sehen, was sie für Bücher besitzt. Es gab nur einige wenige, vor allem Kriminalromane, in ihrem Bücherschrank, sozusagen ein Gegengewicht zu Brecht. In ihrem Flur stand ein Regal mit einem Vorhang davor. Als Journalist ist man neugierig und ich wollte wissen, was denn dahinter sei, vielleicht ja doch noch Bücher. Es waren aber lauter Gläser mit eingemachten Zwetschgen. Ich fragte, ob sie denn gerne eingemachte Zwetschgen esse. Sie antwortete mir, das sei ihre eiserne Ration, wenn sie einmal nichts mehr zum Leben habe. Das waren wirkliche Überlebensängste.

Sie musste aber auch schon immer einen festen Überlebenswillen haben, um sich durchzusetzen. Brecht hatte ihr in den Kopf gesetzt, das Studium abzubrechen und zu schreiben. Es erforderte einen starken Glauben an sich selbst, das umzusetzen. Sie handelte damals gegen den Willen der Familie; sie stammte doch aus einer traditionellen Handwerkerfamilie, aus tiefster katholischer Provinz. Noch dazu war sie die Einzige unter den Schwestern, die zum Studium gedurft hatte.

Noch einmal zu den "Gesammelten Werken": Ursprünglich war ja eine zweibändige Dünndruckausgabe geplant. In einem Brief an Sie schreibt Fleißer jedoch, sie sei gegen eine Dünndruckausgabe, das sähe nach nichts aus und spare Unseld nur Geld. Aus dem Ingolstädter Reisebericht des Verlegers geht hervor, dass Fleißer und Unseld sich bei diesem Anlass auf eine dreibändige Ausgabe, gedruckt auf normalem Werkdruckpapier, verständigten. Können Sie sich erinnern, mit welchem Argument Fleißer dies bei Unseld erreichte?

Sie kennen doch die schöne Geschichte von Brecht. Wie Peter Suhrkamp mit Brecht übereinkam, eine Werkausgabe zu machen. Brecht hatte darauf gesagt, dann müssen wir aber groß setzen und dickes Papier nehmen, sonst kommen wir über drei Bände nicht hinaus. Sie hat natürlich auch unter diesem Eindruck gestanden: Dann wird's nur ein Band, wenn wir das auf Dünndruck machen, das ist mir zu wenig.

Ja, obwohl so eine Dünndruckausgabe viel teurer ist als eine normale. Das ist das sogenannte Brechtsyndrom bei ihr. Ich weiß nicht, ob Brecht ihr das einmal gesagt hat: Große Buchstaben und dickes Papier nehmen.

Unseld brachte dafür Verständnis auf, überhaupt hat sich der Verlag sehr liberal gezeigt. Es war kein Problem, dass wir später auf mehr Seiten kamen, als ursprünglich gewesen war. Andere Verlage werden bei so etwas wahnsinnig.

Im Vertrag ist festgehalten, dass die Herausgabe zwischen Ihnen, Herrn Unseld und Frau Fleißer realisiert wird. Wie muss man sich das in der Praxis vorstellen?

Im Grunde genommen funktionierte der Verlag als reine Herstellungsmaschine, er hat die Umsetzung geplant und dafür gesorgt, dass die Ausgabe erscheinen konnte. Man hat eine Aufstellung gemacht, um annähernd zu sehen, was zusammenkommt, aber inhaltlich war der Verlag nicht daran beteiligt. Das wäre für Unseld bei der Größe des Unternehmens gar nicht gegangen. Es war die Zeit, als der Verlag expandierte und seinen großen Boom erlebte. Die intensivste Anteilnahme, die Unseld genommen hat, war, dass er die Einleitung gelesen hat, als er im Krankenhaus lag.

War der Materialienband, der dann kurze Zeit später erschien, von Anfang an geplant, oder wie kam es dazu?

Das ist während der Arbeit an den "Gesammelten Werken" entstanden. Wir hatten ja alle keinen Begriff davon, wie ihr Leben abgelaufen ist. Ich hatte in etwa die Kritiken der zwanziger Jahre im Kopf und wusste von ihren Erzählungen. Dann tauchte die Frage auf, ob man einen Materialienband machen könnte, und ich bejahte. In diese Arbeit habe ich mich sehr hineingekniet, und es wurde schließlich der Materialienband, der am besten in der Presse besprochen wurde, ein wirklich spannendes Stück. Mittlerweile ist er vergriffen und wird auch nicht mehr aufgelegt, obwohl er damals gegangen ist wie die warmen Semmeln. Es ist wirklich schade, dass es keine Neuauflage gibt. Die müsste natürlich gründlich überarbeitet werden.

Erinnern Sie sich noch, warum sich das Erscheinen des Bandes Anfang 1973 ein wenig verzögerte? Fleißer beanstandete das in einem Brief an Unseld.

Ich weiß das nicht mehr so genau, es war ein recht komplizierter Band, weil er so viele unterschiedliche Texte enthielt, für die alle die Rechte eingeholt werden mussten. Wir warteten auf die Premiere von Peter Stein. Der Band war fertig, aber wir wollten unbedingt diese für die Rezeptionsgeschichte wichtige Sache mit hineinnehmen. Ich glaube, daraus ergab sich die Verzögerung.

Verzögerung liefert das Stichwort für einen sehr aufgebrachten Brief, den Fleißer an Unseld wegen der Hinauszögerung des Erscheinungstermins für die "Gesammelten Werke" schrieb. Darin verbittet sie sich auch, dass man ihre Sprache in ein übliches Schriftdeutsch abändern und sie damit "verstümmeln und steril" machen wolle. Wieso hatte sie da plötzlich Bedenken?

Sie hatte einfach solche Befürchtungen. Anlass dazu waren die Erfahrungen aus dem "Starken Stamm". Da hatte man versucht, sie zu einer hochdeutschen Autorin zu machen und ihr ihre bayerische Sprachkraft genommen. Aber sie sehen ja, sie hat mir die Dinge übertragen und zwischen uns gab es da kein Problem. Dem Verlag selbst war es egal, man hat das ganz mir überlassen.

Am 4. Dezember 1972 erschienen dann die "Gesammelten Werke" doch noch rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft im Buchhandel. Wie war da die Resonanz?

Der Verlag hat sie damit in der Öffentlichkeit neu aufgebaut. Zum Erscheinen der Bände wurde eine Lesung in Frankfurt veranstaltet, bei der Unseld sie mit seinen großen Gebärden wunderbar einführte. Man kennt das, dieses Schwärmerische: Und die Fleißer... und überhaupt ist jeder der wichtigste Autor!

Nach Unselds Ankündigung machte ich die Einführung, und danach hat sie gelesen. Während meiner Rede musste sie einmal plötzlich aufstehen und hinausgehen, weil ich eine kurze Passage über Brecht brachte, die sie sehr gerührt hat. Nachher ist sie wieder hereingekommen und hat sehr schön gelesen, ich glaube es war das "Abenteuer aus dem Englischen Garten". Das war schon ein großer Tag für sie.

Natürlich ist aber der Aufbau von Fleißer nicht ursächlich mit Suhrkamp verbunden gewesen. Suhrkamp hat sich auf den fahrenden Zug mit draufgesetzt, hat dann die richtige Entscheidung getroffen und sozusagen das Tempo verstärkt.

Für die "Gesammelten Werke" hat Marieluise Fleißer ihre in der Nachkriegszeit begonnene Erzählung "Die im Dunkeln" fertiggestellt. "Die Bittere Speise", ein Nachruf auf Günter Eich, ist, soweit man bisher weiß, ihre letzte Arbeit und 1973 entstanden. Sie konstatierten bereits 1971 nach Ihrem Gespräch mit ihr, dass die Biografie als Stoff für Erzählungen aufgezehrt sei.

Sie hatte nach dem Wiedererscheinen in der Öffentlichkeit in sich noch einmal den Impuls gehabt, etwas Neues zu machen.

Das ist ihr nicht mehr gelungen, aber das war keine neue Schwierigkeit; diese Schwierigkeiten hat sie immer gehabt. Sie bestanden vor allem darin, einen Stoff zu finden in einer Situation, in der sie schreibbereit ist. Das war sie ja nicht immer, oft hatte sie gar keine Zeit und Kraft gehabt zum Schreiben. Sie hätte sicher gerne, sehr gerne noch etwas geschrieben. Man darf aber nicht vergessen, dass sich nach 1972 die Krankheit verstärkte. Das zehrte sie sehr auf und sie muss sehr gelitten haben.

Fleißer hat in den letzten Jahren unendlich viele Auskünfte über sich gegeben, im Sinne von Zeugnis von sich ablegen und sich wieder in Erinnerung rufen. Sie fühlte sich vollkommen vergessen. Es muss sehr schwierig gewesen sein, solche Spannungen auszuhalten; an die Spitze der literarischen Entwicklung geschleudert zu werden und dann so lange zu versinken. Ich habe sie einmal gefragt: Hat Brecht Sie kaputtgemacht? Sie sagte, ja, der hat mich gebrochen und auch zerbrochen. Sie gab aber auch ganz andere Auskünfte, das war etwas ganz Ambivalentes bei ihr.

Wie fühlte sich Fleißer Ihrem Eindruck nach im Suhrkamp Verlag aufgehoben? Hatte Sie da endlich ihre verlegerische Heimat gefunden?

Sie war sehr zufrieden, war endlich dort, wo sie hinwollte. Ich sehe es immer noch, wie sie die Gesamtausgabe vor sich hält: Jetzt habe ich etwas in der Hand.

Das war gewissermaßen die Rechtfertigung ihrer Entscheidung für die Schriftstellerei, damit konnte sie etwas vorweisen.