Braucht die junge Popliteratur eine neue Kritik?

Thomas Ernsts hilfreiche und fragwürdige Einführung in ein schon älteres Phänomen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was seit einigen Jahren in der jüngsten deutschen Literatur unter dem Etikett „Popliteratur“ firmiert, findet Leser, Hörer und Zuschauer in Massen, doch in den Feuilletons keine gute Presse. Ein alter Mechanismus scheint da wirksam zu sein: Was beim Publikum Erfolge feiert, was sich anschickt, populär zu werden, stößt bei der professionellen, elitebewussten Literaturkritik auf tiefes Misstrauen oder höhnische Verachtung.

Als der amerikanische Kritiker Leslie Fiedler 1968 in Freiburg sein damals Aufsehen erregendes, bald wieder vergessenes und erst in den achtziger Jahren neu beachtetes Plädoyer für die Postmoderne vortrug, zuerst in der Wochenzeitung „Christ und Welt“, dann im „Playboy“ publiziert, und als er dabei im Namen auch des „Pop“ forderte, die Gräben zwischen Elite- und Massenkultur zu schließen, verlangte er zunächst nach einer neuen Kritik. Gegenüber jener postmodernen Literatur, wie sie von Allen Ginsberg, John Barth oder Jahre vorher schon von Boris Vian vorgelegt wurde, erweise sich die Sprache und Methode herkömmlicher Literaturkritik von „einzigartiger Unangemessenheit“, verfasst von „Idioten und Naivlingen“. „Wenn Kritik überleben soll“, so erklärte er, „wenn sie also nützlich, lebensfähig und wichtig werden soll, muß sie radikal verändert werden.“

Es gehört zu den Verdiensten der kleinen Einführung in die Popliteratur, die der 27 Jahre alte Publizist und Romanautor Thomas Ernst geschrieben hat, im Blick auf Autoren wie Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg oder Joachim Bessing an Fiedlers Vortrag zu erinnern. Ob seine etwas angestaubten Kriterien des ‚Subversiven‘ und ‚Experimentellen‘, die an der gegenwärtigen „Mainstream-Popliteratur“ kein gutes Haar lassen, den Forderungen Fiedlers entsprechen und ihrem Gegenstand angemessen sind, lässt sich freilich bezweifeln. Sie bewegen sich ganz im Fahrwasser alter Mainstream-Kritik: „Hatte Popliteratur bislang einen subversiven oder experimentellen Charakter, so zeigen Kracht und Stuckrad-Barre, wie man die Fernseh- und Lifestyle-Sprache reproduziert und damit einfach Bücher schreibt, die sich gut verkaufen.“ Als ob nichts einfacher wäre, als Bücher zu schreiben, die innerhalb kurzer Zeit in über zwanzig Auflagen erscheinen (Stuckrad-Barres „Soloalbum“), von denen über 300 000 Exemplare verkauft werden (Benjamin Leberts „Crazy“) oder die über Monate hinweg erste Plätze auf den Bestsellerlisten belegen (Florian Illies‘ „Generation Golf“). Und als ob nichts schwerer wäre, als Bücher zu schreiben, die sich nicht verkaufen lassen.

Mit einigem Entsetzen lasen damals die an Adorno geschulten Kritiker der Kulturindustrie Fiedlers Satz über die damaligen Repräsentanten jüngster Literatur: „Sie fürchten nicht den Kompromiß des Marktplatzes, ganz im Gegenteil“. Doch stehen viele Kritiker noch heute fassungslos vor der Frage, die nach Ernsts Bericht über das Treffen in Tutzing, zu dem Maxim Biller Anfang 2000 über hundert junge deutsche Autoren eingeladen hatte, zum Gegenstand allgemeinen Zankes wurde: „warum die neue Literatur so schlecht ist, sich aber zugleich so gut verkauft.“ Was 1993 bei einem Berliner Literaturfestival als „Social Beat“ kreiert oder zur gleichen Zeit unter dem Namen „Poetry Slam“ aus Chicago nach Deutschland importiert wurde, findet Ernst zwar ebenfalls dilettantisch, doch gehört diesen Erscheinungsformen der Popliteratur so lange seine Sympathie, wie sie kommerziell erfolglos und den etablierten Verlagen fern bleiben. Denn, so lautet eines der typischen Verdikte in diesem „Rotbuch“: „Von den großen Verlagen ist aber keine Erneuerung der Popliteratur zu erwarten, da sie sich immer stärker an den Umsatzzahlen orientieren.“ Zu begrüßen ist also nach dieser merkwürdigen Logik der Literaturkritik, was literarisch schlecht ist, doch immerhin unverkäuflich. Und abzulehnen, was ebenfalls literarisch schlecht ist, doch kommerziellen Erfolg hat.

Dennoch ist dem Schnellkurs durch die Geschichte der Popliteratur Erfolg zu wünschen. Denn er weist richtige und wichtige Wege zur historischen Verortung dessen, was heute im Umfeld jener Clique, die sich im Untertitel der 1999 erschienenen Gesprächsprotokolle ihres dreitägigen Treffens im Berliner Nobelhotel Adlon „popkulturelles Quintett“ nennt, geschrieben und inszeniert wird. Die Wege führen zurück zum dadaistischen Spiel mit der Welt der Waren, der Werbung und der Medien, verweisen auf die Integration massenhaft verbreiteter Konsumgüter, der Reklame, der Comics oder des Showbusiness in der amerikanischen Pop-Art, auf Roland Barthes‘ Analysen der Alltagskultur, die Medientheorie Marshall McLuhans oder Michel Foucaults Rede vom Verschwinden des Autors. Erinnert wird an die Anthologien „ACID“ und „Silverscreen“ sowie an Rolf Dieter Brinkmanns eigene Texte, an den Jugendslang in Jerome David Salingers „Der Fänger im Roggen“ oder in Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“, an die Happenings der Situationistischen Internationale oder an die subkulturelle Szene des Prenzlauer Berges.

Erstaunlich, wie viele Informationen in Texten, Bildern und Zitaten auf den 100 Seiten des Bändchens Platz finden. Was Thomas Ernst dabei leistet, ist allerdings eher ein anregendes Brainstorming als ein Versuch, die vielen Literatur- und Kunstphänomene, die einen Bezug zur Massenkultur aufweisen, einigermaßen systematisch und genau zu vergleichen.

Die „Lesungen“ etwa Stuckrad-Barres überall da, wo nichts an eine seriöse Buchhandlung erinnert und wo er, gelegentlich zusammen mit Rainald Goetz, zugleich als Kabarettist, DJ und Showmaster à la Harald Schmidt agiert: Wodurch unterscheiden sie sich von der Performance eines Hubert Fichte, der 1966 im ausverkauften Star-Club auf der Hamburger Reeperbahn zur Begleitung der Beat-Band Ian and the Zodiacs aus dem Manuskript seines Romans „Die Palette“ las? Worin unterscheidet sich das Romandebüt „Irre“ von Rainald Goetz von dem antipsychiatrischen Klassiker „Einer flog über das Kuckucksnest“? Zu Recht verweist Ernst auf die erstaunliche Konjunktur von Generationenkonstrukten seit der „Wende“. Die popliterarische „Generation Golf“ ist da neben den Generationen „X“, „Berlin“ oder „@“ nur eine unter vielen. Sogar Karl Mannheims grundlegende Soziologie der Generationen erwähnt er und vergisst nicht die in den neunziger Jahren erschienenen Bücher der Soziologen Claus Leggewie über die 89er und Heinz Bude über die 68er Generation. Doch was hat das alles mit „Pop“ zu tun? Und wie ist es zu erklären, dass Leggewie und Illies exakt die gleichen Jahrgänge (der zwischen 1965 und 1975 Geborenen) mit völlig unterschiedlichen Generationenbildern und -benennungen charakterisieren?

Eine literarische Jugendbewegung von Autoren unter dreißig Jahren hatte auch Fiedlers Programm der postmodernen Pop-Literatur im Blick. Wer älter sei, müsse – natürlich im metaphorischen Sinn – erst sterben und neu geboren werden, um an ihr teilzuhaben. Musik, Massenmedien, Sex und Drogen, die Fiedler zu konstitutiven Stoffen der damals jungen Literatur erklärte, haben für die jüngste Literatur heute ihre Bedeutung behalten, doch „Western, Science-fiction und Pornographie“, die Fiedler zu den bevorzugten Inspirationsquellen literarischer Anti-Kunst erklärte, haben ihr Prestige zugunsten anderer Erscheinungsformen der Massenkultur verloren: Talkshows, Fernsehserien, Videoclips und Internet. Medienabfall für alle? Nein, die jüngste Popliteratur ist nicht mehr wie jene, die Fiedler meinte, eine „Bedrohung für alle Hierarchien“ zwischen Hoch und Niedrig, Elite und Masse, Professionalität und Dilettantismus, sondern etabliert neue Hierarchien durch feine Unterscheidungen zwischen gutem und schlechtem Geschmack. Der Konsum dient ihr zur sozialen Differenzierung. Kracht, Stuckrad-Barre und Illies sind bekennende Snobisten. Nach der Lektüre von Krachts „Faserland“ habe man endlich sagen dürfen, so Illies, dass „die Entscheidung zwischen einer grünen und einer blauen Barbour-Jacke schwieriger als die zwischen CDU und SPD“ ist. Ein Schlüsselsatz in „Generation Golf“ lautet: „Der Kauf bestimmter Kleidungsstücke ist, wie früher die Lektüre eines bestimmten Schriftstellers, eine Form der Weltanschauung geworden.“ Die Mechanismen sozialer Distinktion sind geblieben, nur ihre Medien haben sich verändert. An die Stelle von literarischen Bildungserlebnissen setzen diese Autoren in ihren Geschichten der eigenen Entwicklung und Identitätsfindung prägende Konsumerlebnisse.

Die etablierte Literaturkritik konnte sich davon nur deshalb so provozieren lassen, weil sie die selbstironischen Töne dieser neuen Pop-Literatur nicht wahrzunehmen vermochte. Schon dass diese Autoren ihre Ignoranz gegenüber hoher Literatur im Medium von Literatur zur Schau tragen, ist ein Ironiesignal. Auf der Rückseite der von Kracht herausgegebenen Geschichtensammmlung „Mesopotamia“ wird zwar, Jarvis Cocker zitierend, die Ironie zu Grabe getragen: „Irony ist over. Bye, bye.“ Aber auch das noch ist pure Ironie. In „Generation Golf“ sind es die Stilmittel komischer Übertreibung und Zuspitzung, die auch jene widerwilligen Leserinnen und Leser, die sich über die stockkonservativen Inhalte und Tendenzen dieses Buches eigentlich nur ärgern können, zum Lachen bringen und ihnen sogar die Möglichkeit eröffnen, aus diesem Generationenportrait eine Generationen- und Selbstkritik des Autors herauszulesen. Die junge Popliteratur braucht keine grundsätzlich neue Kritik, aber sie braucht eine bessere, eine genauere Kritik, und sie braucht eine Kritik, die den Erfolg dieser Literatur nicht zum Argument selbstüberheblicher, mit Neid gemischter Verachtung macht, sondern ihn erklären kann, und zwar aus Qualitäten und Reizen, die diese Literatur trotz all ihrer Fragwürdigkeiten durchaus zu bieten hat.

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Titelbild

Thomas Ernst: Popliteratur.
Rotbuch Verlag, Hamburg 2001.
95 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3434535195

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