Die Verletzlichkeit des Individuums angesichts der lärmenden Zeit

Der Lyrikband "Ich, das Gold, das Feuer und der Stein" stellt ausgewählte Gedichte Rilkes vor

Von Martina NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch eine Sammlung ausgewählter Lyrik von Rainer Maria Rilke?

Gedichtsammlungen dieses Autors finden sich im Buchhandel zuhauf: Als Geschenkbuch mit besinnlichen Liebesgedichten, in Ausgaben seiner einzelnen Werke. Nun bringt der Reclam Verlag eine neue Auswahl unter dem Titel "Ich, das Gold, das Feuer und der Stein" heraus. Ein Auszug aus dem "Stundenbuch" soll die Auswahl begründen und sie unter ein Thema stellen. "Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht", schreibt Rilke aktuell wie eh und je: "Man fühlt den Wind von einem großen Blatt, / Das Gott und du und ich beschrieben hat / Und das sich hoch in fremden Händen dreht." Und in den ausgewählten Gedichten raunt immer wieder die vergehende Zeit, das Menschenschicksal, dem das Individuum sich zu unterwerfen hat, angesichts einer immer rapider sich verändernden Welt. Rilke sucht und sucht, sucht Heimat, Ziel und Ruhe, und findet sie hier und nirgends: "Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge / und keine Heimat haben in der Zeit."

Über hundert Gedichte und Auszüge aus den "Sonetten an Orpheus" und den "Duineser Elegien" versammelt das kleine Taschenbuch. Die frühen Gedichte Rilkes wurden nicht berücksichtigt, ganz dem Rat des Dichters gemäß, der 1907 in seinem Brief an den Schriftsteller Stefan Zweig schrieb: "Ich weiß nicht, welchen Platz jene jugendlichen Arbeiten beanspruchen dürfen und ob ihnen überhaupt einer zukommt. Sie haben mir immer mehr ihre Unzulänglichkeit zugekehrt: Ich verleugne sie nicht, aber es scheint mir, als ob ich so sehr Eines und immer wieder dieses Eine zu sagen hätte, daß sie später einfach ersetzt worden sind durch den besseren und erwachseneren Ausdruck und so überhaupt nur etwas wie überlebende Provisorien darstellen, dem Definitiven gegenüber." Überhaupt nur zwei Gedichte aus Rilkes Lyrikband "Larenopfer", erschienen 1896, im 22. Lebensjahr des Autors, lassen sich in der neuen Auswahl finden. Der erste Gedichtband, im November 1894 unter dem Titel "Leben und Bilder. Bilder und Tagebuchblätter von René Maria Rilke" veröffentlicht, blieb ebenso unberücksichtigt wie auch die dritte, im Dezember 1896 erschienene Gedichtsammlung "Traumgekrönt" und der vierte, pünktlich zur Weihnachtszeit 1897 herausgegebene Lyrikband "Advent".

Bald schon orientierte sich der 1875 in Prag geborene Dichter nicht mehr an der in seinen frühen Gedichten noch zu findenden neuromantischen Stimmungsmalerei, sondern wandte sich der faktischen Außenwelt zu: "Nur die Dinge reden zu mir", gesteht Rilke 1903 in einem Brief seiner Freundin Lou Andreas-Salomé: " Ich fange an, Neues zu sehen: schon sind mir Blumen so unendlich viel und aus Thieren kamen mir Anregungen seltsamer Art. Und auch Menschen erfahre ich schon manchmal so, Hände leben irgendwo, Munde reden, und ich schaue alles ruhiger und mit großer Gerechtigkeit." In einer Epoche der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung lebt Rilke in Paris, erlebt er die Hoffnung und den Schrecken einer ungewissen Zukunft. Zur gleichen Zeit entwarf Schopenhauer seine lebensverneinende Philosophie und Nietzsche formulierte seinen radikalen Atheismus. Pessimistische Kulturkritiker sagten den "Untergang des Abendlandes" voraus, wie Spengler es später in diesem Geist formulierte. Inmitten dieses unruhigen, ruhelosen Zeitalters sah sich Rilke versetzt - und trotz aller Ängste sprach er seinen Glauben und seinen Optimismus aus. Rilkes nervöses Bewusstsein seiner Zeit mitsamt aller Umstände, die ihn zum Teil ekelten und quälten, störten ihn nicht in seiner Lebensfreude, die sich in der siebten Elegie offenbart: "Hiersein ist herrlich. Ihr wußtet es, Mädchen, ihr auch, / die ihr scheinbar entbehrtet, versankt -, ihr, in den ärgsten / Gassen der Städte, Schwärende, oder dem Abfall."

Und dennoch stellt sich die Frage, ob diese neue Auswahl an Gedichten wirklich etwas Neues zutage bringt. Viele populäre Stücke sind ausgenommen worden, so zum Beispiel "Der Panther", der unter Rilke-Lesern ganz oben rangiert, ebenso wie "Herbsttag". Auch die Liebesgedichte "Ankunft", "Schlaflied" und das wohl bekannteste "Liebes-Lied" sind vertreten. Die Anthologie soll wohl ein knapperes und preisgünstigeres Pendant zu einer immerhin 324 Seiten fassenden Gedichtsammlung Rilkes aus dem gleichen Verlag (erschienen 1997) darstellen. Fast erweckt die Aufnahme dieser bekannten Gedichte den Eindruck, als passten sie nicht zum selbstgewählten Motto, Rilke am Ende eines vergehenden Jahrhunderts, eines sich ablösenden Zeitalters und auf der Schwelle zu einer neuen Zeit in allen möglichen Nuancen zu beleuchten, doch erscheint die chronologische Auswahl sich nicht stringent an das Motto zu halten, das auch im Nachwort aufgegriffen wird, wo Roland Ebb immer wieder auf die Zeit- und Lebensumstände des Dichters zurückgreift, ihn und sein Werk in einen historischen Kontext stellt. Allerdings signalisiert schon der Titel der Zusammenstellung Offenheit: "Ich, das Gold, das Feuer und der Stein" ist eine Zeile aus dem hier ebenfalls berücksichtigten Gedicht "Der Goldschmied", das das Individuum in eine Reihe stellt mit den Dingen, die bearbeitet werden wie das Gold, oder die als Festes zur Bearbeitung anderer Materialien dienen wie der Stein, sowie der Formkraft, dem Feuer.

Die konsequente chronologische Ordnung der Gedichte nach dem Entstehungsdatum, unabhängig davon, ob diese erst posthum veröffentlicht wurden, erleichtert die Einordnung in die jeweiligen Lebensbedingungen Rilkes, lässt aber zugleich keinen Rückschluss darauf zu, welche Gedichte der Autor zurückhielt oder als unabgeschlossen betrachtete. Entsprechende Hinweise fehlen.

Titelbild

Rainer Maria Rilke: Ich, das Gold, das Feuer und der Stein. Ausgewählte Gedichte.
Herausgegeben von Roland Ebb.
Reclam Verlag, Leipzig 2001.
125 Seiten, 6,60 EUR.
ISBN-10: 3379017396

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