Moi, Lolita

J. T. LeRoy hat in seinem Debütroman "Sarah" die eigene Kindheit als Stricher verarbeitet

Von Mischa GayringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mischa Gayring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwas so erzählen, dass es schön ist und bedeutsam. Das, sagt J. T. LeRoy, 21, müsse Schreiben sein. Schön und bedeutsam also. Nicht einfach drauflos schreiben, keine Sätze wie: Mutter war gemein zu mir. Sondern Bilder dafür finden, Bilder, die Bewunderung ausdrücken, Zärtlichkeit, die Hoffnung machen und trotzdem - oder gerade deswegen - immer noch wahr sind. Und "Sarah", LeRoys erster Roman, handelt genau davon.

Als Kind einer Prostituierten im Rotlichtmilieu aufgewachsen, hat der zwölfjährige Ich-Erzähler eine ,normale' Welt nie kennen gelernt. Der schöne blonde Junge hat nichts anderes im Sinn, als eine gute Hure zu werden, eine mindestens ebenso gute wie seine Mutter, die selbst noch ein halbes Kind ist. Er arbeitet in der Bar eines Edelbordells, wo er als Mädchen verkleidet Gäste animiert. Die Neugierde treibt Sarah einem pädophilen Zuhälter in die Hände, der von dem ,Mädchen' fasziniert ist, es als besondere Kostbarkeit in einen goldenen Käfig steckt und zum Schau- und Lustobjekt für grobschlächtige Freier in seinem Truckstop-Bordell macht. Sarah, von allen bewundert, aber nicht berührt, werden bald übersinnliche Fähigkeiten zugesprochen. Ihr geldgieriger Zuhälter nutzt die Situation und stilisiert sie zur Heiligen - bis der Schwindel eines Tages auffliegt.

J. T. LeRoy schreibt hier über seine eigene Kindheit. Schön war sie wohl nicht - eher so, dass man an ihr verzweifeln müsste. Jahrelang zog er mit seiner schon mehrfach verheirateten, jedoch allein erziehenden Mutter durch die USA. Als er 13 war, ließ sie ihn sitzen. LeRoy ging anschaffen, war obdachlos und auf Drogen, wusste nicht, ob er Junge oder Mädchen ist, wollte schließlich Schluss machen. Aber weil er glaubte, dass Selbstmörder nicht ins Himmelreich kommen, sondern in der Hölle landen, siegte die Angst - und er machte weiter. Als er mit fünfzehn einen Therapeuten fand, schlug der ihm das Schreiben vor. LeRoy, der nichts so hasste wie Sozialarbeiter, konnte nun deren Sicht der Dinge verändern: Er schrieb nun für sie. Und sie mussten es lesen.

Die Therapie dauert bis heute an. Mit seiner ersten, ,richtigen' Familie, dem Freund, dessen Ex-Frau, deren Kind, lebt er in San Francisco. Schreibt meist nachts, voller Hast und mit ein wenig Hoffnung. "Wenn ich mit dem Schreiben aufhöre, sterbe ich", sagt LeRoy, und dass er Angst habe, wenn die Seiten voll sind.

Er versteht Menschen, die seine Bücher lesen, aus Sensationslust am fremden, dunklen Leben. Weh tun sie ihm trotzdem. LeRoy ist hungrig nach Applaus. Auf seiner Internet-Seite veröffentlicht er Lobeshymnen der Kritiker, schmutzige Witze, aber nur wenige Fotos. Denn da ist ja immer noch die Angst, benutzt zu werden, liegen zu bleiben am Straßenrand.

Regisseur Gus Van Sant soll "Sarah" jetzt verfilmen. Erst zögerte J. T. LeRoy, sein Leben aus der Hand zu geben, jetzt wünscht er sich Angelina Jolie für die Rolle der Sarah. "Mutter ist tot", sagt LeRoy, "sie war ein bisschen wie Jolie. Nur blonder."

In den USA ist "Sarah" längst ein Bestseller. In den Listen von Los Angeles Times und New York Times hielt sich der Roman wochenlang auf den ersten zehn Plätzen. Und der große amerikanische Schriftsteller Bret Easton Ellis lobte "Sarah" mit den Worten: "Wer es heute liest, dem geht es wie den Menschen früher, als sie zum ersten Mal Elvis hörten: Er wird das Leben spüren".

Titelbild

J. T. LeRoy: Sarah.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Schmidt.
Reclam Verlag, Leipzig 2001.
184 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3379007803

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