Heiß und kalt

Antje Rávic Strubels turbulenter Episodenroman "Unter Schnee"

Von Charlotte BrombachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Brombach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eingewickelt in kratzige Decken liegen Vera und Evy auf der Terrasse der Bergpension. Schnee ist angekündigt, ein Sturm, die Lifte sind lahmgelegt, die Skipisten des tschechischen Ortes Harrachov geschlossen. Stillstand. Es geht nicht vor und nicht zurück, die beiden sind zum Nichtstun verdonnert, die Nähe wird zu eng. Vera verschwindet. "Als gäbe es für sie nur zwei Aggregatzustände. Sobald es nicht siedendheiß geht, will sie weg." Das sagt Evy sechs Episoden später über Vera.

Da wissen wir schon, dass Vera aus West- und Evy aus Ostdeutschland stammt, dass sie sich bei einem rasanten Skiunfall kennengelernt haben, dass Vera die Forschere und Schlagfertigere und Evy die Geduldigere und Vernünftigere von beiden ist und dass Vera und Evy ein Paar sind. Ein Paar, das nach zwei Jahren Fernbeziehung zwischen Mainz und Senftenberg in der Lausitz das Miteinander-Eingesperrtsein erst einmal aushalten lernen muss.

Dazwischen macht uns Antje Rávic Strubel auf atemberaubende Weise mit dem restlichen Personal dieses Winterurlaubs bekannt: Mit der Vermieterin der kleinen Pension, Frau Beran, die vor 28 Jahren ihren Mann verloren hat, weil die Rettungshubschrauber alle zu einer militärischen Übung abkommandiert waren; mit Evys Mitbewohner Sebastian, der 1989 in einem kleinen, aber wirksamen Akt der Subversion seine Kompanie, die gegen Demonstranten und Mauerstürmer vorgehen sollte, besoffen und damit einsatzunfähig gemacht hat; mit der Familienmutter im Erdgeschoss, deren Mann eine Variante des "Underdog" abgibt; mit dem Skiladen-Besitzer Martin, der gern besser Deutsch spräche, um mit Evy ein gewandteres Gespräch führen zu können; und mit dem Postbeamten Erik M. Broda, der seine flotte Chefin Simona verabscheut und "investigativen Journalismus" betreibt, indem er die Postkarten der Feriengäste liest. "Möchte ihr in den Kopf gucken", schreibt Vera da über Evy, "kann es aber nicht".

In dreizehn haargenau austarierten und raffiniert verschränkten Episoden nähert sich die Autorin in ihrem zweiten Roman "Unter Schnee" dem an, was zwischen Vera und Evy heiß und kalt stattfindet - indem sie durch gekonnte Perspektivenwechsel vom eigentlichen Zentrum des Buchs abrückt. Die Beziehung zwischen Vera und Evy entfaltet sich nämlich vor allem dort, wo sie die Geschichten der anderen Figuren streift. Ob der Saunagänger Eduard Schmidt in ihnen seine Tochter sieht oder die internetsüchtige Adina die Spice Girls, die Annäherung zwischen den Frauen findet unter wechselnder Beobachtung statt. Oberflächen werden abgetastet, das Denken der Figuren an deren Blicken und Gesichtsausdrücken erforscht. Strubel gelingt es eindrucksvoll, in Anspielungen und Gesten Erzählbares zu entdecken.

Der Schnee, das große Nichts, wirkt als Katalysator, bringt die Menschen dazu, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Vera wird vom Schnee verschluckt und taucht und taut, gerettet von der Bergwacht, ein wenig gefühlssicherer wieder auf, Evy wird sich beim Warten darauf ihrer Sehnsüchte bewusst. Die Krise kann ausagiert und überwunden werden, bei ihrer Abreise sind Vera und Evy "über den Berg" - und müssen sich wieder trennen. Wir sind hier nicht im Davoser Sanatorium. Auf dem tschechischen Berg gibt es kein erhellendes rhetorisches Gesprächsgestöber, sondern enggeführte, knappe Dialoge, kein minutiöses Mitverfolgen der Entwicklungsschritte einzelner Figuren, dafür: genau beobachtete Kurzszenen, Detaileinblicke in kunstvoll zusammengewürfelte Lebensausschnitte. Ein und dieselbe Begegnung wird aus unterschiedlichen Sicht- und Erlebensweisen berührt, ein einmal geäußerter Satz geistert in verschiedenen Varianten durch die Texte, da jede Figur in der Erinnerung eine eigene Version des Geschehens hegt.

Unglaublich, wie spannend das Ganze durch diesen Kniff wird. Strubel, die in diesem Jahr 27 Jahre alt und in Klagenfurt mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet wurde, setzt nicht schlicht Puzzlestücke zusammen, sondern blendet eigens ausgeleuchtete Momentaufnahmen so ineinander über, dass ein vieldimensionales Bild der Liebesbeziehung zwischen Vera und Evy entsteht. Und ganz nebenbei auch das Stimmungsbild eines postsozialistischen Dorfes, in dem dubiose Geschäfte abgewickelt werden und so mancher eine Spitzel-Vergangenheit hat. In "Unter Schnee" werden durch Strubels präzise, angenehm unaufdringliche Schreibweise und ihren erzählerischen Kunstgriff ,heiße' Themen elegant zerstäubt und so weit heruntergekühlt, bis sie kristallisieren und sich in zauberhaften Formen über die Szenerie legen. Die in viele Einzelteile zersprengte innere Handlung gewinnt durch diesen kühlen Überzug um so deutlichere Konturen.

Titelbild

Antje Rávic Strubel: Unter Schnee. Episodenroman.
dtv Verlag, München 2001.
180 Seiten, 13,30 EUR.
ISBN-10: 3423242779

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