Vom außergewöhnlichen Gewöhnlichen

Martin Pichlers Debüt "Lunaspina"

Von Kathrin SchlimmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Schlimme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es soll still sein, ein für allemal. Genug der Anstrengung, die, mehr noch als alle anderen, sie selbst sich auferlegt. Genug der unerträglichen Verantwortung, alles im Lot zu halten, mühsam eine Ordnung wiederherzustellen, stets aufs Neue. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als auszubrechen aus diesem endlos sich hin-ziehenden Alltagstrott. Aber "sie widersteht dem Impuls wegzulaufen", hat gelernt auszuhalten. Konnte schon als Kind nicht anders, als zu gehorchen, wenn es ihr befohlen wurde. Immer begleitet von der Angst, nicht bestehen zu können vor den Forderungen des Lebens.

Einfühlsam entfaltet der Bozener Autor Martin Pichler das Schicksal der Magdalena Stofner, und damit jenes einer ganz gewöhnlichen Südtiroler Kleinfamilie. Martin Pichler ist jemand, der das Alltägliche, Normale in den "Sog einer alltäglich-abgründigen Familiengeschichte" zu ziehen versteht. Da ist die auszehrende Krankheit der Mutter, die schamvoll verheimlichte Homosexualität des Sohnes, die Unbeholfenheit des Vaters. Zudem eine verwirrte, an Alzheimer erkrankte Großmutter, aufgebraucht vom Leben: "Eines Tages fällt das ganze Leben auf einen zurück, und man wird ganz verstört davon. [...] Und doch richtet sie sich manchmal in ihrem Rollstuhl auf, krümmt ihren Rücken gerade und misst geraden Blickes die Welt. Aber die Welt richtet sich nicht mehr nach ihr."

Tabus, Sprachlosigkeit, Körperlichkeit. Und immer wieder bedrückende Angst. Der Autor beweist die bemerkenswerte Fähigkeit, komplexe seelische Vorgänge behutsam sprachlich umzusetzen. Eindrucksvoll ist seine detailgenaue Beobachtungsgabe, die in einer faszinierenden Beschreibungslust ihren Ausdruck findet. Mit großer Intensität schildert er auch das Unausgesprochene, Zwischenmenschliche und bedient sich, um den Gefühlszustand seiner Figuren zu beleuchten, einer bilderreichen Sprache. Aus fortwährend wechselnder Perspektive wird erzählt, wobei dem inneren Monolog eine besondere Bedeutung zukommt: Während der Leser aufs Genaueste Einblick in die intimen Gedanken der Personen erhält, bleiben diese untereinander sprachlos. Zum einen verdeutlicht Martin Pichler mit einer solchen Erzählkonstruktion die eigentliche Tragik des Geschehens, nämlich die Unfähigkeit, offen miteinander zu kommunizieren, zum anderen wird durch sie Spannung erzeugt. Unmerklich, aber unaufhaltsam läuft der wohlgeordnete Alltag aus seinem Gleis und gerät leise außer Kontrolle. Nichts stimmt mehr - der Reis wird statt körnig-locker pampig und klebrig, benutztes Geschirr steht staubfangend herum, der Dreck legt sich über die Dinge. Immer deutlicher zeichnet sich die Unausweichlichkeit der Katastrophe ab. Ursachen sind in der bis zum Ende absurd ausgeführten Rollenverteilung und dem Vor-sich-hin-leben der einzelnen Familienmitglieder zu suchen. Die Unfähigkeit, über den eigenen Gefühlshorizont hinauszusehen, die sicherlich kein Einzelschicksal ist, beherrscht die Handelnden mehr und mehr. Dennoch geht es nicht darum, einen Schuldigen zu finden, sondern die Motive zu ergründen. In diesem Sinne wird, und das gilt es zu schätzen, niemand moralisch verurteilt.

Der Titel "Lunaspina" (wörtlich übersetzt soviel wie "Stachelmond") weist auf die Zweisprachigkeit in Südtirol hin, dem Ort des Geschehens und gleichzeitig des Autors Heimat. Teilweise kursiv gesetzt, finden sich auch im Text selbst immer wieder Schlüsselwörter in der Originalsprache. Meist handelt es sich um solche, die vom recht einfachen Leben der Einheimischen erzählen; manchmal sprichwortartig, auch klischeegeprägt, jedenfalls die Lebenseinstellung der dort Beheimateten widerspiegelnd. Einerseits veranschaulichen diese Wörter und Redewendungen den sprachlichen Alltag Südtirols (und zeugen nicht zuletzt von Pichlers ausgeprägtem Sprachgefühl), andererseits lassen sie eine gewisse Distanz zum Sprachgebrauch, und damit auch zu den Lebensweisheiten der Einheimischen, erkennen.

Titelbild

Martin Pichler: Lunaspina. Roman.
Studien Verlag, Innsbruck 2001.
258 Seiten, 20,20 EUR.
ISBN-10: 3706622467

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