Le Pop est mort, vive le Techno

10 Fragen zur Popkultur an den DJ und Produzenten Ingo Boss

Von Mischa GayringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mischa Gayring

Der Frankfurter DJ und Produzent Ingo Boss, 22, zählt zu den Vertretern einer neuen Generation von engagierten Clubartisten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, neue Wege zu gehen und nicht auf alten Wegen Rast zu machen. Seine ausgesuchten experimentellen Sounds sind ein gutes Beispiel dafür. Er spielte bereits zusammen mit so bekannten Künstlern wie Jörg Henze, Jonzon und Robert Görl. Nach zahlreiche Gigs u. a. in den Lokhallen/Mainz, im Moonclub/Karlsruhe, Lagerhaus/Mannheim, Airport/Würzburg hat er im MTW/Offenbach mit Spectrum@MTW seit April 2000 eine Residenz gefunden. Er veröffentlicht u. a. auf den Labels "PV", "Delirium Red" und "Reverse". Zuletzt erschien von ihm ein Remix des Tracks "Ritmo Total" von Toni Rios. Zur Zeit arbeitet er - zusammen mit seinem Studiopartner Denis Engemann - an seinem ersten Album, das voraussichtlich 2002 veröffentlicht werden soll.

MG: Nach dem 11. September fordern viele das Ende der sogenannten Spaßgesellschaft. Würdest du dem zustimmen?

IB: Auf keinen Fall! Da hätten die Terroristen ja erreicht, was sie wollten. Das Leben muss weitergehen, auch wenn es schwer fällt. Die Terroristen sollen nicht glauben, dass sie die Welt zum stehen kriegen... Party on!

MG: Thomas Assheuer spricht in der "Zeit" von der Krise des Pop, und Westbam schon seit längerem von der Krise des Techno. Was hältst du eigentlich von Westbams Vorschlag, sich mal gemeinsam an einen Tisch zu setzen und zu diskutieren, wie es mit Techno - und der Bewegung an sich - weitergehen soll?

IB: Ich find das kann man nicht diskutieren, das muss man einfach machen! Und vor allem muss man's leben. Ausleben! Und ich weiß auch gar nicht, ob das überhaupt stimmt, was der Westbam da sagt. Ich mein, vielleicht ist ja Pop wirklich in einer Krise, aber das kann für Techno nur gut sein. Techno lebt, definitiv.

MG: Aber wie stellst du dir die Zukunft von Techno vor? Wie wird sich Techno deiner Meinung nach in den nächsten Jahren entwickeln?

IB: Ich glaube es wird in Zukunft wieder mehr darum gehen, möglichst viele Facetten des elektronischen Spektrums abzudecken und sich stiltechnisch nicht in eine Kategorie stecken zu lassen. Also soundtechnisch immer experimenteller, abstrakter und industrieller. Es muss wieder darum gehen, die Partypeople mit auf eine Reise zu nehmen, durch Klanglandschaften und durch die Nacht.

MG: Vielleicht wäre eine Möglichkeit ja auch das Zusammenspiel unterschiedlichster Künste, also Musik, Bildende Kunst, Literatur usw., zu einem neuen Ganzen. Ich denke da z. B. an die Ausstellung "Lauschbar" der Frankfurter Fotografin Sandra Mann. Daran warst du ja auch beteiligt - neben DJs und Produzenten wie Sven Väth, Ralf Hildenbeutel, Pascal F.E.O.S., Heiko Laux, Anthony Rother und Gabriel del Mar. Was war da die Idee?

IB: Die Idee war, Künstler, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, aber eigentlich alle elektronische Musik machen - man kennt sich zwar, und man kennt auch die Namen, aber man kennt sich nicht wirklich -, einfach mal unter einen Hut zu bringen und damit ja irgendwie auch wieder was Neues zu bewegen, indem man einfach manche Sachen direkt miteinander verbindet.

MG: Hans Magnus Enzensberger sprach vor Jahren einmal davon, dass "der Anlaß, aus dem ein Gedicht entsteht, [...] ein plötzlicher Flash" ist, der "nichts mit Vernunft zu tun" hat, weil "das Dichten doch eine absurde Tätigkeit" sei. Und wie ist das beim Produzieren? Flash oder harte Arbeit?

IB: Kommt drauf an. Manchmal hast du eine Idee und die willst du dann umsetzen - das wär die Arbeit - und du sitzt acht Stunden da und du hast nichts gepackt. Und mal hast du einen Sound und denkst dir: das ist ja der Oberwahnsinn das ist ja... das hätt ich jetzt gar nicht gedacht, dass das bei rauskommt - und das würd ich als Flash bezeichnen. Dass du einfach auf einmal einen Sound hast, an dem du ein bisschen rumgedreht hast und dann denkst: "Oh jetzt! Daraus machen wir was." Und dann beginnt die Arbeit. Und das ist ja auch beim Dichten ganz geil - ich mein, ich hab auch schon Lieder und Gedichte geschrieben oder auch einfach nur so ein paar Verse, so wie so - ja nicht Grundregeln - aber so Sachen, die du einfach so schreibst irgendwie. Das kann auch nur aus zehn Wörtern bestehen, und daraus kannst du den Sinn erkennen, den du für dein ganzes Leben mitnehmen kannst. Ja, und es passiert einfach nur so in einem Gedankenblitz. Das ist vielleicht dieser Flash.

MG: Was zeichnet deiner Meinung nach einen guten DJ aus?

IB: Wenn du ein guter DJ bist und deine Aufgabe ernst nimmst und nicht irgendwie: "Ja, ich geh da einfach hin, baller meine Platten runter und geh dann wieder", sondern dir schon vorher Gedanken machst, während dem Set - und nicht nur auf dein Publikum eingehst, sondern auch einfach experimentell neue Wege gehst, hast du eine Mission zu erfüllen, was Neues zu kreieren, neue Sachen an den Mann zu bringen, um einfach den Leuten zu zeigen - grade diesen ignoranten Kindern, die irgendwie schon um zwölf harte Musik brauchen und das bis zur letzten Platte, denen einfach zu zeigen: Da gibt's mehr. Es gibt einfach mehr gute elektronische Musik. Ob's jetzt Elektro-Minimal-Techno oder auch einfach nur gutes Techno ist. Und ich bin in Gedanken immer schon da und denk mir: "Oh, was passiert da und so weiter, und wie geht's und was erwartet dich da für ein Publikum". Und du hast einfach so eine Art Mission zu erfüllen: du kommst in einen Club rein und guckst, und dann stehst du da hinter den Plattenspielern und fängst an, und dann - nicht jedes Publikum ist in jeder Stadt gleich - in Köln kann man nicht den Sound spielen, den man in Berlin spielt, in Berlin nicht den in Frankfurt und in München den sowieso nicht. Das ist also immer eine Art Mission.

MG: Wenn du mal zurückschaust. Gab's da Anfang der 90er so einen Moment, wo du gesagt hast: "Das ist Techno und das mach ich jetzt!"?

IB: Am Hessentag '93. Also, das werd ich nie vergessen. Da lief so viel geiles Zeug. So Sachen wie Bonsai, Eye-Q, Harthouse. Ich glaube, ich habe das Tape heute noch. Das hab ich am Tag dreimal gehört und das anderthalb Jahre lang - auch mit ein paar Unterbrechungen. Dann habe ich's halt nur einmal am Tag gehört. Aber da gab's so Dinger wie Energy 52 "Cafe del Mar" und ganz gewisse Bonsai oder "Accident in Paradise", "L'esperanza" in einem harten Mix. So Dinger, die man echt nicht vergessen hat, so Musik, die auch unter die Haut geht, direkt ins Herz und einem so eine Wärme gibt und auch so ein positives Gefühl. Und das war gerade '93 sehr hoch durch diese melodische Trance-affimierte Musik. Frankfurter Hard-Trance, den sich dann andere angeeignet haben, um in die Charts zu gehen.

MG: Und wie war das in der Schule?

IB: Wir haben mit ein paar Jungs auf dem Schulhof zusammen immer "Cosmic Baby" gehört. Da waren wir aber die totalen Outsider - für uns aber waren wir die Ober-Insider. Tja, da hat uns früher keiner ernst genommen, weil wir haben ja Musik gehört, die keiner verstanden hat - halt kein "Dr. Alban" und was da in den Charts lief, sondern eben unser Ding, und da war's noch nicht so... nicht so für jedermann und so etabliert wie's heute durch die ganzen Charts ist, diese vier-viertel Techno-Beats mit irgendwelchen Flächen. Ja, heute ist es ja ein Witz, was da alles läuft. Aber damals haben die andern Kiddies auf dem Schulhof noch gesagt: "Hey, was hört denn ihr da?" Und wir so: "Ja, lasst uns mal". Oder wenn wir früher mit einer weiten Freeman T. Porter-Hose in die Schule gegangen sind, weil wir eigentlich im Prinzip sogenannte Raver waren, hat das auch keiner verstanden. Dann ging's los im HipHop, dass es die - durch die Musik-Videos - auch mal hier in Deutschland gecheckt haben, dass ja eigentlich die Amis, die Farbigen die Freeman T. Porter-Hosen anhatten - und das schon seit zehn Jahren, und ihre HipHop-Musik irgendwie da drin zelebrieren und breakdancen und so weiter. Und heute gehen die Leute in die Schule - ich bin ja erschrocken letztens. Ich geh da an meiner Ex-Schule vorbei und da kommen mir ein paar Mädchen entgegen, blaues Oberteil so ein Adidas-Fake und hinten eine orange Schrift "Väthischistin". Ich bin ja fast abgebrochen. So hätten wir uns früher echt nicht in die Schule getraut.

MG: Die Techno-Szene hat sich ja in den letzten Jahren auch ziemlich verändert? Könnte man da vielleicht von einer "Popularisierung" sprechen?

IB: Früher war jeder, der sich in dieser Szene bewegt hat - und es waren ja auch noch nicht so viele, war für sich ein Freak. Und da es ja angesagt war sich ein bisschen zu verkleiden, hat jeder für sich selber was gesucht, um irgendwie besonders aufzufallen oder irgendwie crazy rüberzukommen. Ja, und heute ist es so, dass viele Leute dazugekommen sind, die eben keine Freaks sind, die aber Techno - aber auch Schranz - für sich entdeckt haben. Ganz normale Durchschnittsbürger, die sowieso nicht wirklich einen eigenen Weg haben und sich auch nichts trauen - von sich aus, meine ich. Da muss erst einer nach vorn gehen und zeigen "hier kannst du auch machen!" Früher waren es Freaks, die haben sich verkleidet, die fanden's geil, da hat auch keiner Bock drauf gehabt, irgendwas anzuhaben, was jemand anderer auch schon anhat. Und bei diesen normalen Durchschnitts-Bürgern - ey, das war doch in der Schule auch schon so: die mussten alle Levi's tragen um cool zu sein. Heute ist es so: jeder muss ne Schlaghose haben, um irgendwie in dieser Szene anerkannt zu werden.

MG: Anfang des nächsten Jahres soll auf PV die nächste "Ingo Boss"-Platte rauskommen. Arbeitstitel: "Transubstantiation". Was hat es mit dem Titel auf sich?

IB: "Transubstantiation". Ja, aber nur die B-Seite, die A-Seite ist "Metamorphosis" und weil das beides ja zusammen gehört - irgendwie vom Thema... Ich mein "Metamorphosis" ist ja ganz klar: Das ist das, was quasi die kleine Raupe macht, bevor sie ein Schmetterling wird. Die cocoonisiert sich ein, die macht eine Metamorphose durch, eine Entwicklung, so eine Art Up-Growing-Process. Aus einer Raupe wird also ein Schmetterling. Sprich: wie das ja eigentlich bei jedem Kind ist, dass ein Kind immer nur ein Lebewesen ist - ganz normal, und nicht so viel denkt. Und jedes Kind geht in eine andere Richtung irgendwann und findet für sich - wenn's was findet, kann man nicht von jedem erwarten - für sich eine Sache, mit der es groß wird und daraus irgendwas macht. Und so ist es ja auch mit der Metamorphose. Ich mein ganz klar, dass aus jeder Raupe ein Schmetterling wird - wenn's was wird. Aber das ist ja so ne Geschichte der Biologie. Das wollten wir hier ja nicht weiter ausführen.

MG: Nicht wirklich. Nein.

IG: Es geht halt um Verpuppung, dass man sich quasi... ja, Verpuppung bedeutet viel. Verpuppung ist für mich auch... ach, wenn du irgendwie unter der Woche nicht mit so einem "Väthischisten"-Teil in die Schule gehst, wie es die Kiddies heute machen, sondern eher normal rumläufst, den ganzen Tag deinen Job machst. Früher war's normal, dass man sich verkleidet hat. Im "Omen", da sind die Leute mit einem Staubsauger auf dem Rücken rumgelaufen - und das war cool. Das würde sich heute auch keiner mehr trauen. Diese Umwandlung, das man am Wochenende sich einfach anders anzieht und einfach mal in ein anderes Kostüm reinspringt und sich dann austobt. Darum geht's bei "Metamorphosis", und deshalb auch der Titel.

MG: Ich danke für dieses Gespräch.

Mehr Informationen zu Ingo Boss finden Sie unter: http://www.ingo-boss.de