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Anmerkungen zur gegenwärtigen Pop-Debatte und zum Ende der Spaßgesellschaft

Von Mischa GayringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mischa Gayring

"Es gibt kein anderes Material als das, was allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht, was man aufnimmt, wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem Schaufenster vorbeigeht... alles ganz gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendeiner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, Meinungen, Gefasel, Gefasel, Ketchup, eine Schlagermelodie."

Rolf Dieter Brinkmann

"Pop war gestern", titelte die Kulturseite der Münchener Boulevard-Zeitung "tz" im Sommer diesen Jahres, und wenige Wochen später, im August, verkündete Oliver Fuchs in der "Süddeutschen Zeitung" anlässlich der Popkomm in Köln: "Der Bundeskanzler ist Pop, Nike sowieso und, wer weiß, vielleicht ist Tengelmann bald auch Pop. Pop hat auf breiter Front gesiegt. Pop ist überall. Pop ist tot." Hat es sich also ausgepoppt? Von wegen!

Eine Welt ohne Pop wäre langweilig und fad. Ohne Pop wäre das Leben ohne Farbe, ohne Ton, will heißen: schwarz-weiß. Und auch wenn die Feuilletons gern das Gegenteil behaupten, ist Pop - zumindest in seinem Kern - emanzipatorisch und antitotalitär. Was heißt, dass im Zeitalter von Pop Hitler nicht möglich gewesen wäre.

Und wenn Peter Scholl-Latour, nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September, das Ende der Spaßgesellschaft fordert, so übersieht er dabei, dass diese barbarische Aktion genau dies auch bezwecken wollte. Dass nämlich - und so ist es auch in den programmatischen Selbstermutigungsschreiben der Terroristen formuliert - die Zeit des Spaßes und der Verschwendung von nun an vorbei sei. Man konzentriert alle Macht auf die Vernichtung des Gegners, lässt den Spaß beiseite und weiß sich Gott nah.

Und schon sind wir mittendrin in der Debatte um das Ende der sogenannten Spaßgesellschaft, die in der Äußerung Scholl-Latours ihren vorläufigen Höhepunkt fand. "Ist nun Schluss mit lustig?", fragte daraufhin Thomas E. Schmidt in der "Zeit" vom 31. Oktober 2001 und konstatierte in seinem Beitrag zu Recht: "Wer den 11. September zur kulturgeschichtlichen Zäsur ausruft, muss erklären können, wieso die neue Epoche schlechterdings besser, wahrhaftiger sein solle als die vorherige (in der immerhin ein bisschen Spaß erlaubt gewesen sei)." Und schließlich bringt er es auf den Punkt, wenn er sagt: "Noch vor wenigen Jahren haben viele Angst gehabt, dass Kultur in den Schraubstock des Nationalen gespannt werde. Heute wird sie mit den Zangen eines Existentialismus bearbeitet, eines Existentialismus des einsam in der Globalisierung stehenden historischen Subjekts. Der Ärger mit der Spaßkultur, mit den Entgleisungen der Politiker und der TV-Prominenz, mit schlechten Romanen und wirren Feuilletons mag in eine Diskussion um Geschmacksfragen münden. Aber gewiss nicht um Schicksalsfragen. Das wäre ein bisschen zu viel."

Und wenn Karlheinz Stockhausen während einer Pressekonferenz die Geschehnisse in den USA als "größtes Kunstwerk, das es je gegeben hat" bezeichnet, dann muss man diese Äußerung einfach verurteilen, weil sie moralisch verwerflich ist und somit in keinster Weise gerechtfertigt werden kann. Der 11. September ist kein Kunstwerk. Aber - und das ist wichtig - der 11. September wurde zu einem Kunstwerk gemacht. Denn zu Recht bemerkte auch Roger Willemsen bei "Boulevard Bio", dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis in den ersten Musik-Videos sich die Szenen, der in die Twintower hineinstürzenden Flugzeuge, wiederfinden würden. Auch der "Soundtrack" zu den Fernsehbildern - der Song "Only Time" der irischen Sängerin Enya - befand sich wochenlang auf Nummer eins der Deutschen Single-Charts, und auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober stellte der Rowohlt Verlag einen Sammelband mit dem Titel "Dienstag, 11. September 2001" vor, dessen Beiträge allesamt "in den ersten zweieinhalb Wochen nach dem 11. September geschrieben" wurden, und unter dem "unmittelbaren Eindruck der Terroranschläge" entstanden sind. Sie "verbinden sehr persönliche Berichte mit dem Bemühen, das Unbegreifliche zu verstehen. Gemeinsam dokumentieren sie die erste Reaktion auf ein Geschehen, nach dem die westliche Welt nicht mehr dieselbe ist wie zuvor."

Was ich anhand dieser Beispiele deutlich machen möchte, ist, dass ein Ende von Pop nicht abzusehen ist, weil Populäres und Gesellschaftliches sich gegenseitig bedingen. Das Problem ist nicht die Spaßgesellschaft oder Pop an sich. Nein, das Problem ist der Intellektuelle selbst oder wie es Rainald Goetz sehr treffend in "Hirn" formulierte: "Es gibt keine vernünftige Weise über Pop zu reden, als hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen, hey, super. Deshalb wirft Pop Probleme auf, für den denkenden Menschen, die aber Probleme des Denkens sind, nicht des Pop." Und als Problem der deutschen Intellektuellen gilt, dass sie sich nicht mehr mitten in der Gesellschaft befinden, wo sie aber sein müssten, um die Gesellschaft von innen her - und es geht nun mal nur von dort aus - zu bewegen, zum diskutieren zu animieren, und letztlich somit zu verändern. Und das könnte eine Chance der deutschen Popliteratur sein, die Kids wieder zum Lesen und zum Handeln zu bringen. Und wer erst mal mit Benjamin Lebert oder Benjamin von Stuckrad-Barre angefangen hat, wird bald schon Lust auf mehr bekommen: Thomas Meinecke, Andreas Neumeister, Rainald Goetz. Und vielleicht kann man so auch den Hunger nach Wissen und Erkenntnis freisetzen, um die Kids für unsere Kultur zu moblisieren, für die sich einzutreten lohnt. Es müssen nicht, dürfen freilich aber Goethe oder Schiller sein, wenn die Parole lautet: "Lesen ist cool".

Und das bedeutet nichts anderes, als dass die Rufe nach dem Ende der sogenannten 'Spaßgesellschaft' verhallen. Denn diese Spaßgesellschaft gibt es so gar nicht. Gert Rubenbauers Lachparade für den deutschen Michel bedient eine andere Klientel als "Ballermann 6", für die Harald-Schmidt-Show interessiert sich ein potentiell anderes Milieu als für Verona Feldbusch, und die distinguierte "Schöner Wohnen"-Welt ist vom 11. September anders betroffen als die "Spaß-haben-auf-Ibiza"-Gemeinde. Das Lebensgefühl dieser Vielen lässt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, diese Milieus sind nicht gleichermaßen vom Terror hypnotisiert, sie befinden sich keineswegs in dauernder Abwehrhaltung. Sie treten durchaus für ihr Leben ein, und das ist gut so, sogar sehr gut, wie auch Rainald Goetz unverzagt meint, denn "wir brauchen keine Kulturverteidigung. Lieber geil angreifen, kühn totalitär roh kämpferisch und lustig". So muss gelebt werden, offensiv und intensiv, ohne schlechtes Gewissen für das Schöne und ohne Reue nach dem Genuss. "Wir brauchen noch mehr Reize", sagt Goetz, der Impuls- und Taktgeber der jüngeren deutschen Literatur, "noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop."