Horváth ist nämlich eigentlich ganz anders

Ein Maskenspiel zum 100. Geburtstag

Von Klaus KastbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Kastberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er wird unserer Liebe nicht entgehen: Im Jahr seines 100. Geburtstages hat es Ödön von Horváth auf drei wissenschaftliche Symposien gebracht, fünf Ausstellungen setzten sich mit dem Leben und dem Werk des Autors auseinander, ein umfassender Überblick über den Nachlassbestand ist in Wien im Rahmen der Ausstellung "Horváth und der Film" in der Österreichischen Nationalbibliothek (bis 17.12.2001) zu sehen. Auf Aufführungen von Horváth-Stücken braucht man im Jubiläumsjahr nicht gesondert hinzuweisen, seit Jahren gehört der Autor im deutschsprachigen Raum zu den meistgespielten Dramatikern. Der Roman "Jugend ohne Gott" schließlich ist ein Klassiker der Schullektüre - viel gelesen und dabei meist in eine Richtung interpretiert: Horváth wird als ein Zeitdiagnostiker gesehen, dem man ohne weiteres zutraut, der heutigen Jugend die Lehren aus der Geschichte zu vermitteln.

Fragt man nach dem Grund, der den Autor bis heute aktuell macht, fangen die Bühnenfiguren fast wie von selbst zu sprechen an. Jeder von uns vermag seine Horváthschen Lieblingssätze herbeizuzitieren. In einem postmodernen Universum scheint der Spruchweisheit ein umso längeres Leben beschieden, je verquerer und gebrochener sie daherkommt. Mein eigener, schräger Lieblingsspruch stammt von Ada, der Hauptfigur aus dem frühen Stück "Zur schönen Aussicht" - ein Zitat, das bis auf den heutigen Tag stimmt. Jeder zivilisierte Mensch findet irgendwo offen oder insgeheim, daß es sich mit ihm so verhält: "Ich bin nämlich eigentlich ganz anders. Nur komme ich so selten dazu".

Die Horváthschen Figuren sind in allem, was sie sprechen und tun, eigentlich anders. Authentisch sind sie nur in jenen Momenten, da ihnen die Sprache genommen ist und sie stumm auf der Bühne stehen. Arthur Rimbaud hatte noch sagen können "Ich ist ein anderer", und er hat dies in einem emphatischen Sinn gemeint. Die Horváthschen Figuren hingegen schaffen sich mit der Einsicht, dass ihr Ich eigentlich ein anderes ist, eine pragmatische Verhaltensstrategie. Der moderne Mensch weiß, dass er eine multiple Persönlichkeit ist. Um sich in einer komplexen Welt zurechtfinden, muss er die Fähigkeit besitzen, nicht nur in einer, sondern in mehreren Rollen halbwegs glaubwürdig zu sein, wobei die dazu benötigten Maskengesichter nicht ein Instrumentarium zur inneren Selbstdefinition sind, sondern ein Ausdrucksmittel gegenüber anderen. Die Horváth-Rezeption hat ihr Hauptaugenmerk oft unhinterfragt auf die Horváthschen Demaskierungen gelegt und dabei leichtfertig gemutmaßt, dass es am Ende bei diesem Autor doch noch die Hoffnung auf ein unmaskiertes Leben und auf zumindest temporäre Wahrheitsmomente gibt.

Horváth aber lässt die Dinge nirgends ruhen, er hält sie in steter Bewegung. Beginnend mit den ersten Prosaschriften, die jetzt wieder in dem Band "Himmelwärts" zugänglich sind, bis hin zu den späten Dramen herrscht ein Spiel der Maske und eben nicht eine Ontologie derselben. Im letzten Stück des Autors, "Ein Sklavenball", tragen alle Figuren griechische Masken. Das Phänomen der Demaskierung ist inflationär, eine Figur nach der anderen entledigt sich ihrer Maske, bis es schließlich von einem punischer Bankier mit einem historisch klingenden Namen heißt: "K.R. Thago nimmt langsam die Maske ab; er hat überhaupt kein Gesicht."

Die Masken liegen bei Horváth für gewöhnlich in mehreren Schichten auf dem Gesicht. Jeder Teil hat seinen Gegenwert, daran ändert selbst Gott nichts. Christine, die zweite weibliche Hauptfigur aus "Zur schönen Aussicht", sagt an einer Stelle des Stückes: "Ich wäre noch gestern vielleicht gar ins Wasser gegangen, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen." Der Hotelier Strasser antwortet: "Was verstehst du unter 'lieber' Gott?" Darauf Christine: "Zehntausend Mark".

Letztlich läuft alles aufs Geld hinaus. Horváths Texte haben etwas von einem Katalog, in dem - wie Walter Benjamin in seinem einflussreichen Buch "Einbahnstraße" (1928) geschrieben hat - der Wert eben auch der metaphysischen Meinung genau beziffert ist, ohne dass diese Meinung deswegen gleich ganz feilgeboten würde. Der Katalog, den Horváth entwirft, ist aber auch ein Katalog des Populären. Der Autor greift in seinem Schreiben Phänomene der Massenkultur auf, die Begeisterung der Menge für Schaubuden und Monströsitäten gehört dazu ebenso wie die frühen Mythen des Films. Diese stellt Horváth, am allerschönsten personifiziert in den gefallenen Mädchen der großen Volksstücke, auf die Bühne und macht sie damit einem bürgerlichen Publikum zugänglich, dem so etwas bis auf den heutigen Tag offensichtlich nicht gar so schlecht gefällt.

Interessant ist, wie Horváth diese starken Wirkungen zustande bringt. Vielleicht liegt es daran, dass die Maske hier nicht der inneren Welt der Figuren angehört, sondern der äußeren Welt der Gegenstände. An einer heruntergerissenen Maske blutet bei Horváth kein Gesicht. Nicht ein Diskurs des Körpers, der von eigener Befindlichkeit berichten müßte, wird in Bewegung gesetzt, sondern ein Spiel der Oberfläche. Wobei freilich nicht gesagt werden soll, dass Horváth ein oberflächerlicher Autor ist, ganz im Gegenteil inszeniert und konstruiert er sein Maskenspiel ja in meisterhafter Weise.

Vollends ausgeprägt ist die Tendenz, alles zu einem Gegenstand mit Gegenwert, nämlich zur Ware, werden zu lassen, in dem Stück "Eine Unbekannte aus der Seine". Zwar greift Horváth in dieser 1933 entstandenen Komödie den populären Trivialmythos der schönen unbekannten Wasserleiche auf. Anders als in den sentimentalen zeitgenössischen Rührstücken (von Hertha Pauli, Alfred Wiedemann oder Reinhold Conrad Muschler) geht es dem Autor aber nicht darum, das Leben der Unbekannten oder deren Seelenzustand zu rekonstruieren und damit dem Gegenstand der Totenmaske eine Geschichte zu geben. Statt dessen fügt Horváth den Gegenstand Totenmaske seiner Geschichte ein. Die Unbekannte verschwindet gegen Ende aus dem Stück, ihre Maske fügt sich nahtlos ins bürgerliche Interieur. Bei ihrem letztmaligen Vorkommen wird das trivialisierte Kunstobjekt bezeichnenderweise in einem Atemzug mit Kochbüchern genannt. So profan ist das Gesicht der Unbekannten in seiner industriell gefertigten Reproduktion geworden, ein Objekt, das in den 20er Jahren massenhaft die Wohnzimmer füllte und in zahlreichen Bildbänden abgebildet war.

Im Nachfolgestück zur "Unbekannten", der Komödie "Mit dem Kopf durch die Wand", ist Horváth der Trivialisierung seines Stoffes nicht mehr entkommen. Das Stück ist eine handlungsmäßig höchst verworrene und dabei leider auch völlig unspannende Verwechslungs- und Gaunerkomödie, in deren Zentrum der Plan steht, bei einer Seance mit eben jener Unbekannten Kontakt aufzunehmen und dieses Szene dann auch noch filmisch umzusetzen. "Mit dem Kopf durch die Wand" spielt im Filmmilieu und beginnt auch gleich mit einem Maskenspiel, bei dem sich ein Pianist und ein Assistent wechselweise als Julius Cäesar, Napoleon, Richard Wagner und Jacques Offenbach ausgeben. Als es an der Tür klopft, reißen sie sich die Masken herunter.

Gegenüber dem Stück "Mit dem Kopf durch die Wand" hat sich Horváth später selbst die Maske der Scham aufgesetzt. In einer oftzitierten handschriftlichen Notiz, deren Datierung zwischen den beiden Eintragungen 1.11.1936 oder 1.11.1937 unsicher ist, heißt es unter der Überschrift "Die Komödie des Menschen" wörtlich: "Einmal beging ich einen Sündenfall. Ich schrieb ein Stück 'Mit dem Kopf durch die Wand', ich machte Kompromisse verdorben durch den neupreußischen Einfluß und wollte ein Geschäft machen, sonst nichts. Es wurde gespielt und fiel durch. Eine gerechte Strafe." Und weiter: "So habe ich mir jetzt die Aufgabe gestellt, frei von Verwirrung die Komödie des Menschen zu schreiben, ohne Kompromisse, ohne Gedanken ans Geschäft. Es gibt nichts entsetzlicheres als eine schreibende Hur. Ich geh nicht mehr auf den Strich und will unter dem Titel 'Komödie des Menschen' fortan meine Stücke schreiben, eingedenk der Tatsache, dass im Ganzen genommen das menschliche Leben immer ein Trauerspiel, nur im einzelnen eine Komödie ist."

Auch wenn textphilologisch nicht ganz klar ist, welche Dramenprojekte mit dem genannten Gesamttitel gemeint sind, rechnet man normalerweise die Stücke "Ein Sklavenball" und "Ein Dorf ohne Männer" hinzu. Auch die beiden Romane "Jugend ohne Gott" und "Ein Kind unserer Zeit", die auf einem höchst komplexen und bis heute nicht annähernd beschriebenen Fundament unterschiedlicher Werkvorhaben beruhen (darunter das ebenfalls im Band "Himmelwärts" publizierte Fragment "Die stille Revolution)", werden gerne unter dem Eindruck einer am Autor beobachteten moralischen Läuterung gesehen. Sieht man sich die Stücke genauer an, nimmt man aber nach außen hin einen fast unveränderten Autor wahr.

So findet sich beispielsweise in "Ein Dorf ohne Männer" ein Dialog, der von jenen der großen Volksstücke nicht gar so weit entfernt ist: "Zweiter: Melde gehorsamst, ich habe heute früh einen Bauern angestochen" "Hauptmann: Wegen was?" "Zweiter: Wegen nichts." Auch die Phrasenhaftigkeit der Sprache kommt in "Ein Dorf ohne Männer" in alter Pracht zur Geltung. Ein gewisser Thomas sagt: "Die Wahrheit wächst im Himmel, mein lieber Herr doch die Wurzeln der Lüge gedeihen alle so um das Haus herum im täglichen Leben - und der Teufel schleppt noch den Dünger herbei, damit sie besser wachsen."

Sicherlich lässt sich ein Stück mit drei Textzitaten nicht ausreichend charakterisieren. Interessant wäre es aber allemal, etwas genauer zu hinterfragen, ob die Dinge im Spätwerk Horváths in ein so grundsätzlich anderes Verhältnis gebracht sind, wie uns das die dabei rein biographistisch argumentierende Horváth-Forschung in aller Dienstbeflissenheit nahelegt. Auffällig ist, dass die dichte Beschreibung der Dinge, also dieses elektrisierende Arrangement, das Horváth trifft und in dem ein "jüngster Tag" schon einmal am Wirtshaustisch verhandelt wird, Gott in der Geldtasche zuhause ist und ein Maskengesicht als ein Gegenstand wie ein Sockenhalter erscheint, quer durch das Gesamtwerk bis hin zu letzten Ausläufern des Horváthschen Schreibens gegeben ist.

Vollends zweifelhaft scheint mir, ob man diese dynamischen Textformationen hermeneutisch so einfach letztzubegründen vermag, wie es bisweilen geschieht. Oft führt Horváth die pure Kontingenz der Dinge vor, ein überdeterminiertes und sich selbst übertrumpfendes Spiel der Maske und der Verkleidung, wie es sich etwa in einer Regieanweisung aus dem Stück "Hin und Her" (1933/34) zeigt:

"Frau Leda und die Krankenschwester gehen nun langsam vorbei. Die Krankenschwester ist aber gar keine Krankenschwester, sondern ein verkleideter Mann namens Schmugglitschinski, der eben mit Frau Leda zusammen, deren Krankheit natürlich auch nur Maskerade ist, das doppelköpfige Haupt der fieberhaft gesuchten Rauschgiftschmugglerbande ist. Jetzt täuschen sie einen langsamen Abendspaziergang vor, um das Terrain an der Grenze bequem rekognostizieren zu können."

So oder so ähnlich ist es bei Horváth überall: Paare sind aufgesprengt, und so mutet es gar nicht seltsam an, daß auch Frau Leda ihres Schwan verlustig gegangen ist. Die Krankenschwester, die sie dafür fand, ist gar keine Krankenschwester, ebenso wie der Kellner kein Kellner ist und der Fleischermeister kein Fleischermeister, sondern sich als Humanist versteht, wenn er sein Messer im Herz der Angetrauten gar nicht mehr extra umzudrehen braucht.

Schmugglitschinskis sind all diese Figuren: Sie schmuggeln ihre falschen Gesichter an den falschen Gesichtern der anderen vorbei. Dabei wissen durch die Bank alle um die doppelten Böden und die grassierende Falschmünzerei Bescheid. Auch die Frauenopfer der Volksstücke sind von Beginn an eingeweiht, sie wissen zwar nicht genau wieviel, aber immerhin, dass ihre Anatomie vor der "Anatomie" etwas wert ist. In der Textwelt Horváths heißen die Personen nicht nur Hülsen und Schminke, sie sind es wirklich. Das Maskenspiel ist allgegenwärtig. Und wer weiß: Vielleicht täuschen ja auch wir, um dieses Spiel besser rekognostizieren zu können, einmal einen ganzen Abendspaziergang vor. Fürs erste lasse ich es hier bei diesem kleinen Schlenkerer bewenden.

Titelbild

Ödön von Horváth: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass.
Herausgegeben von Klaus Kastberger.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
208 Seiten, 9,70 EUR.
ISBN-10: 3518398474

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Titelbild

Klaus Kastberger (Hg.): Ödön von Horváth. Unendliche Dummheit - dumme Unendlichkeit.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2001.
264 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3552049940

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