Christliche Taliban und das Kloster im Kopf

Christina von Brauns Versuch über den Schwindel

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christina von Braun, die mit ihrer in den 80er Jahren in feministischen Kreisen zum Kultbuch avancierten Untersuchung "Nicht Ich. Logik. Lüge. Libido" bekannt gewordene Kulturtheoretikerin, hat sich in ihrem nunmehr erschienenen voluminösen Buch über "Religion, Schrift, Bild, Geschlecht" dem Schwindel zugewandt und einen "Versuch" geradezu exorbitanten Ausmaßes vorgelegt. Ob das Werk, wie "Nicht Ich" den Status eines Kultbuches erlangen wird, mag dahingestellt sein. Ein wichtiges Buch ist es - trotz einiger Schwächen - jedoch allemal. Eine dieser Schwächen besteht darin, dass man ihm seine Entstehungsgeschichte allzu sehr anmerkt: Es ist aus einer Reihe unterschiedlicher Aufsätze und Vorträge hervorgegangen, "die auf den Gebieten Gender, Medien und dem Verhältnis von jüdischer und christlicher Tradition lagen". Zwar ist mehr als ein bloßes Potpourri entstanden, doch fehlt dem Buch weitgehend ein durchstrukturierter Argumentationsgang. Der immer wieder aus dem Textgewebe hervorscheinende "Leitfaden", die Frage des "kollektiven Imaginären", leistet Orientierung ebenso wenig wie der symmetrische Aufbau des Werkes. Zu den Stärken des Buches zählt hingegen nicht zuletzt, dass es von Braun immer wieder gelingt, überraschende Konnexe und Kausalzusammenhänge scheinbar heterogenster kulturgeschichtlicher Entwicklungen aufzuzeigen beziehungsweise herzustellen. Dabei fühlt man sich allerdings manchmal von der Fülle des Materials schier erschlagen. Mögen die meisten Hinweise, Anekdoten und kulturgeschichtlichen Fakten auch noch so interessant sein, wie etwa die Information, dass es der mittelalterliche Theologe Philip von Nathusius für "eine 'Erniedrigung der Frauen'" hielt, "ihnen 'gelehrte Bildung' zu geben", und man so darüber belehrt wird, dass nicht erst die afghanischen Taliban des 20. Jahrhunderts solch abstruse Behauptungen zum Zweck der patriarchalisch-religiösen Herrschaftssicherung in die Welt setzten.

Neben die Präsentation derartiger Belege ihrer kulturgeschichtlichen Gelehrsamkeit stellt die Autorin innovative Überlegungen etwa zu Judith Butlers Konzept der Maskerade als Darstellung der Anomalie und als Strategie der Subversion. Zur kulturellen Norm von 'Weiblichkeit', hält sie Butler entgegen, gehöre doch gerade, dass ihr Anomalie und Subversion als 'Normalität' zugeschrieben würden. Zwar sei es richtig, "die 'natürliche Gegebenheit' des Materiellen (oder des Biologischen und Geschlechtlichen)" zu hinterfragen, und zu erkennen, in welchem Ausmaß das Geschlechtliche zur "'Naturalisierung' des Symbolischen" herangezogen werde. Doch gelte es auch zu verstehen, "daß diese Hinterfragung selbst - oder die 'Subversion' des Kanons - zum 'Gesetz' des Weiblichen erklärt worden" sei, und dass dieses ihrerseits als "Motor des 'Fortschritts' und der Normbildung" diene. Diese Überlegungen sind zweifellos nicht von der Hand zu weisen. Wie dem Dilemma allerdings zu begegnen ist, weiß von Braun jedoch auch nicht zu sagen.

Das Buch, bei dessen Titel, "Versuch über den Schwindel", es sich um eine Anleihe bei dem 1786 erschienenen gleichnamigen Werk des Kant-Intimus Markus Herz handelt, stellt die Frage nach dem "kollektiven Imaginären" ins Zentrum. Nicht zufällig bildet der Begriff die Überschrift des vierten von sieben Kapiteln, um das Fragen des Körpers kreisen, die in den Abschnitten zwei ("Der Körper des Alphabets") und drei ("Der ein-gebildete Körper") sowie fünf ("Der Kollektivkörper") und sechs ("Der Fremdkörper") behandelt werden. Umrahmt sind die fünf mittleren Kapitel von dem einleitenden Versuch, der den Titel des Ganzen stiftet, und dem abschließenden Kapitel "Das Behagen in der Schuld". Den tragenden Begriff des kollektiven Imaginären bestimmt die Autorin als "'Kopula' zwischen Geschichte und Medien"; als das "Bindeglied" also, das die "medialen Bedingungen" benötigen, um im Wechselverhältnis von Individuum und Gemeinschaft "historisch wirkungsmächtig" zu werden. Das so verstandene kollektive Imaginäre könne allerdings, so die Autorin, "nur dann wirkungs- und wirklichkeitsmächtig werden, wenn es nicht als Imagination erkennbar" sei.

Doch bewegt sich von Braun meist nicht auf einem derart abstrakten Niveau, sondern stellt konkrete Bezüge zwischen historischen Ausformungen von Religion, Schriftlichkeit und Geschlecht her. So verweist sie auf die bekannten Klischees, die in christlichen Kulturkreisen Juden und Frauen zugeschrieben werden. Beide verkörpern sie 'das Andere', und beide werden sie als Schwindler konstruiert, die entweder (wie die Juden) Normalität oder (wie die Frauen) Hysterie simulieren. Von Braun weiß aber auch die weithin in Vergessenheit geratenen mittelalterlichen Legenden in Erinnerung zu rufen, welche die Identifikation von jüdischer Identität und 'Weiblichkeit' illustrieren und etwa besagen, dass männliche Juden "an Monatsblutungen litten". Und natürlich weist sie darauf hin, dass Antisemitismus und Gegnerschaft der Frauenemanzipation, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, nicht zufällig Hand in Hand gehen. In beiden drücke sich die "Angst vor der Auflösung der Gemeinschaft" aus.

Anders als im Christentum repräsentiert das 'Weibliche' im Judentum nicht das Andere des Eigentlichen. Vielmehr ist hier beiden Geschlechter ihre "jeweilige 'Andersartigkeit'" eingeschrieben. Diese unterschiedliche Konstruktion des Geschlechterverhältnisses führt die Autorin in origineller Weise auf die Differenz zwischen der hebräischen und der griechischen Alphabetschrift zurück: Nur die letztere verschriftlicht die Vokale. Im hebräischen Konsonantenalphabet sind hingegen die "beiden symbolischen Funktionen - der männliche Körper als Symbolträger der Zeichen und der weibliche Körper als ein 'Lautwerden' der Zeichen - aufeinander angewiesen".

Von Brauns "Versuch" ist jedoch mehr als 'nur' ein monumentales kulturhistorisches Kompendium, denn ausgehend von ihren profunden kulturgeschichtlichen Kenntnissen schlägt die Autorin wiederholt Brücken in die Gegenwart. So etwa, wenn sie die mittelalterliche Askese von Frauen, deren Essensverweigerung sie als scharf von derjenigen der Mönche zu unterscheidenden nachweist und als "Kloster im Kopf" bezeichnet, mit der "modernen Magersucht" parallelisiert. Beide Male gehe es um die "Abgrenzung des individuellen weiblichen Körpers gegen den Kollektivkörper und die unterschiedlichen Weiblichkeitsdefinitionen", die er hervorgebracht habe. Von Brauns überraschende These lautet, dass in dem gegenwärtig häufig diagnostizierten Krankheitsbild der Magersucht nicht, wie weithin angenommen, die "Weigerung, Frau zu werden" zum Ausdruck komme, sondern vielmehr die Ablehnung der Frauen, die ihnen zugeschriebene "Rolle des 'Selbstopfers' zu übernehmen oder erotisch zu besetzen". Magersucht stelle somit "eine Art von Solidaritätskampf mit der Mutter oder einen Unabhängigkeitskampf für die Mutter" dar. Das mag zwar zunächst nicht sonderlich überzeugend klingen, doch versteht es die Autorin, ihre These plausibel zu machen.

Nicht weniger originell sind ihre Ausführungen zur Verwurzlung der Genforschung in der christlichen Tradition. Zu Unrecht würden die Bemühungen der Humangenomforscher und -techniker gemeinhin im Widerspruch zur christlichen Demut gesehen. Denn das Gen, "die Metapher der Moderne" schlechthin, nehme heute die doppelte Stelle der Hostie ein: die Stelle des "Corpus Christi mystikum, mit dem sowohl der Leib Christi, das 'Fleisch gewordene Wort', als auch die Gemeinde der Gläubigen bezeichnet wird". "Auf säkularisierte Weise" erfülle das Gen so beide Funktionen der Hostie: Es sei "Zeichen und Fleisch zugleich, eine Metapher für die individuellen und den kollektiven Körper", und es biete das "Versprechen einer fleischlichen Unsterblichkeit". Kurz: Im 20. Jahrhundert habe die DNS die Funktion übernommen, "die das 'reine' und erlösende Blut für das Christentum" inne hatte.

"Ein Schlusswort? Gar ein Fazit? Das wird bei der Fülle der angeschnittenen Stoffe und der dargestellten historischen Prozesse niemand erwarten." Nein, der Rezensent erwartete es wahrhaftig nicht und kann es selbst ebenso wenig wie die Autorin leisten.

Titelbild

Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht.
Pendo Verlag, Zürich 2001.
672 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3858424064

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