Dekadenz scheibenweise

Die "Buddenbrooks"-Bearbeitung ist ein Meilenstein deutscher Hörspielgeschichte

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der 25-jährige Thomas Mann im Sommer 1900 seinen Debütroman an Samuel Fischer schickte, reagierte der Verleger mit einem ernsthaften Einwand. Er bezweifle, dass sich viele Menschen fänden, die Zeit und Konzentrationslust hätten, ein Werk dieses Umfangs zu lesen. Als die Erstausgabe im darauffolgenden Jahr dennoch ungekürzt auf 1.100 Seiten erschien, war sie zunächst alles andere als ein Verkaufserfolg. Einige Rezensenten fragten skeptisch, ob dicke Wälzer nun plötzlich wieder in Mode kämen.

Heute, gut hundert Jahre später also, sind die zu Nobelpreis-Ehren gelangten "Buddenbrooks" unumstritten Thomas Manns erfolgreichster Roman und haben sich weltweit schätzungsweise zehn Millionen Mal verkauft. Dennoch scheint Fischers Befürchtung derzeit - Mann-Boom hin oder her - begründeter denn je. In den literarischen Leistungskursen unserer Schulen zählen die "Buddenbrooks" nicht zum Pflichtprogramm, und selten gibt es Lebensläufe, in denen Arbeitswelt und Literaturgenuss eine harmonische Einheit bilden.

Nun gehört es zu den neueren Wonnen der Gewöhnlichkeit, dass man sich Romane, zumal die ganz dickleibigen, auch vorlesen lassen kann. Hörbücher sind die Rettung für alle Bildungswilligen, deren Augen nach einem arbeitsreichen Tag schon über der ersten Seite Prosa zufallen. Sie sind Hilfestellung für alle Ratlosen, die ein Buch dreimal anfangen und daraufhin dreimal wieder ins Regal stellen. Sie verschaffen Ablenkung auf langen Autofahrten, beim Bügeln, Fensterputzen oder Aufräumen.

Das jüngste "Buddenbrooks"-Hörbuch ist keine Mammut-Lesung des kompletten Romans - die hat Gert Westphal für den NDR Hannover in den Jahren 1979 und 1980 unternommen. Was uns heute auf sieben CDs vorliegt, ist vielmehr eine aus dem Archivschlummer erweckte "hörspielhafte Inszenierung" von 1965, die der Hessische Rundfunk und Radio Bremen damals gemeinsam produzierten. Unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner verwandeln über 40 Sprecherinnen und Sprecher Thomas Manns Roman in ein etwa achtstündiges Radio-Monument.

Freilich war selbst für dieses Riesenprojekt eine radikale Textkürzung ganz nach Samuel Fischers Vorstellungen vonnöten. Thomas-Mann-Verehrer werden derlei Streichungen, gegen die sich der Autor seinerzeit so vehement gewehrt hat, für Verfälschungen halten. Doch erstaunlicherweise geht durch die Hörspielbearbeitung weniger an Substanz verloren, als man befürchten könnte. Die lebhaften Dialoge der Figuren wechseln geschickt mit dem souveränen Parlando des Erzählers ab: So gehen kaum Handlungsstränge verloren, und auch der Eindruck eines vier Generationen umfassenden Zeitstroms bleibt voll erhalten.

Natürlich ist die Übersetzung eines Romans in ein anderes Medium, ob Hörspiel oder Film, grundsätzlich ein fragwürdiges Unternehmen. Umso verblüffender, wie nah die hier vorgenommenen Konkretisierungen dem Text sind und wie sehr sie seinem Verständnis dienen können. Als besonders eingängig erweist sich die akustische Darbietung, weil das Präteritum des Romans im Hörspiel zum Präsens mutiert. Dadurch lässt sich die fortschreitende psychische Entwicklung der einzelnen Charaktere besser nachvollziehen. Trefflich ist auch der stets einfühlsame Ton des Erzählers Gert Westphal. Westphal erläutert das Geschehen und macht sich durch verschwörerisches Flüstern oft zum Komplizen des Hörers. Über Stunden hinweg transportiert diese Interpretation sowohl die sprachliche Artistik und subtile Ironie ihrer Vorlage wie auch Manns unverwechselbar gravitätischen Stil. Authentische Passagen plattdeutscher und bayerischer Idiome sowie Einblendungen von Salonmusik und allerlei Hintergrundgeräusche tragen zur Polyphonie dieses Hörbuchs bei. So altmodisch-sentimental die anfänglich intakte Lebenswelt der Buddenbrooks auch auftritt, so aggressiv hören sich die Stimmen an, welche gegen Ende die zunehmende Lebensunfähigkeit und schließlich das ohnmächtige Scheitern der Familie illustrieren.

Zieht man die Bilanz aus acht Stunden "Buddenbrooks", so erweist sich dieses Hörspiel als vielstimmige Seelengeschichte voller emotionaler Spannungsbögen. Gerade deshalb sind diese CDs eine Anschaffung wert für alle, die eine Alternative zur herkömmlichen Romanlektüre suchen.

Titelbild

Thomas Mann: Buddenbrooks. 7 CD.
Der Hörverlag, München 2001.
45,50 EUR.
ISBN-10: 3895845442

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