Ein Weg ins Offene

Jooyoung Kims Roman "Der Stachelrochen"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine winzige Hütte, eingeschneit, etwas abseits von den anderen Häusern des Dorfes; darin ein vierzehnjähriger Junge und seine Mutter, die einige Jahre zuvor von ihrem Mann verlassen wurde. Das ist die Ausgangssituation von Jooyoung Kims Roman "Der Stachelrochen". Der titelgebende Fisch ergibt eine Mahlzeit, die der Verschwundene besonders schätzte; stets hängt der Fisch, getrocknet, vor der Hütte, die Abwesenheit des Mannes wie die Hoffnung auf seine Rückkehr bezeichnend.

Eines Morgens ist der Fisch verschwunden, hat die Hütte jedoch eine dritte Bewohnerin: ein Mädchen, das sich nachts eingeschlichen hat. Mit außerordentlichem Beharrungswillen gelingt es ihr, nicht verjagt zu werden. Damit setzt eine Entwicklung ein, zerfällt die gewohnte Ordnung. Das Verhältnis von Mutter und Sohn, zuvor nach Jahren sozialer Absonderung von wortlosem Einverständnis geprägt, wird distanzierter. Die Mutter achtete, seitdem sie allein lebte, penibel auf korrektes Benehmen, um der Schande des Verlassenseins nicht noch weitere Ehrlosigkeiten hinzuzufügen; ihre Entscheidung, die Vagabundin als entfernte Verwandte auszugeben, hat Folgen, die sie zu Beginn noch nicht absieht.

Nun vollzieht sich, aus der Perspektive des Jungen, eine mehrfache Öffnung. Zum einen erweitert sich der Raum, von dem erzählt wird. Der Junge befindet sich zunächst im Inneren der Hütte, deren Tür des Schnees wegen versperrt ist, bewegt sich dann im Dorf und seiner Umgebung, kommt in die nahe gelegene Kleinstadt und lebt am Ende mit der Perspektive, in die zuvor unvorstellbar entfernte Großstadt zu reisen. Dem korrespondiert ein Zugewinn an zeitlicher Dimension. Zu Beginn reagiert der Junge fast instinkthaft auf Reize der Umgebung, besonders auf das lang gewohnte Verhalten der Mutter. In dem Maße, in dem er allmählich die Gründe erfährt, aus denen sein Vater fliehen musste, entwickelt er ein Bewusstsein für widersprüchliche Verläufe.

Beides bedeutet auch, dass er sich für soziale Erfahrungen öffnet, dass er den Rollencharakter des Sozialen erfährt. Der Erzähler erlernt, andere zu durchschauen; er erfährt es, durchschaut zu werden. Soziale Normen, die wie selbstverständlich galten, geraten zum Schein - durch die Vagabundin, die sich um sie nicht schert; durch die Mutter, die sich immer mehr der selbst auferlegten Moralität entzieht; schließlich stellt sich selbst der Nachbar, vor dessen Blick es stets zu bestehen galt, als egoistischer Taktiker heraus, dessen Konservatismus Schein war.

Es ist also auch der Roman eines Erwachsenwerdens, den Kim schrieb. Am Ende steht der Bruch mit der Erlebnisform Kindheit. Ein einziger Satz, harmlos scheinbar, zerstört die Sichtweise des gereiften Erzählers. Man könnte danach den "Stachelrochen" ein zweites Mal lesen, stets noch mehr sich fragend als schon zuvor: was wirklich geschildert wird, was der Junge, am Beginn seiner Pubertät, nicht sehen konnte oder sehen mochte.

Die Entwicklung wird nicht nur behauptet oder stofflich vermittelt, sondern gestaltet. Die klare Form balanciert zwischen Regel und Befreiung: Während die Ereignisse in den ersten beiden Teilen weitgehend korrespondieren, verzichtet Kim im dritten, letzten Block auf das Schema. Dies entspricht dem Durchbruch, den er seinen Protagonisten erleben lässt. Verschiedene Elemente setzt Kim fast leitmotivisch ein. Fast stets sind sie mit Natur verbunden, wie auch zu Beginn der Wechsel der Jahreszeiten, nicht die soziale Interaktion das Leben des Erzählers zu rhythmisieren scheint. Doch zerfällt der Gleichklang von Klima und Ereignissen, drängt sich die Konfrontation mit Menschen in den Vordergrund und bewahrheitet sich, was das Motiv des Stachelrochens bereits andeutete: Dass die Natur, mag es in der Wahrnehmung des Jungen zuerst auch anders wirken, stets und nur als menschengeprägte erscheint.

Kims Erzählen ist zeichenhaft. Es gibt reichlich Psychologie im Roman: Die Frage, wer was von wem weiß, wen beobachtet, überhaupt die Anordnung der Blicke ist meisterhaft vermittelt. Die tyrannische Wirkung sozialer Überwachung ist ebenso herausgearbeitet wie das Gegenteil - dass es möglich ist, sich den Normen zu entziehen, ohne dass die befürchtete Folge eintritt. Im Vordergrund steht dennoch die Form, die nirgends verborgen ist und stets dem Leser Distanz zu wahren hilft.

Das gilt auch für die ausgedehnten Passagen, in denen der Junge sich durch meist winterliche Landschaften bewegt. Im Buch, von koreanischen Kritikern nicht zu Unrecht als "lyrischer Roman" klassifiziert, bleibt die subjektive Sicht des Erzählers indessen stets gebrochen. Der Leser weiß schnell, dass das Kind vieles nicht begreift, dass die Perspektive trügt und die Schilderung dem Geschilderten nicht entsprechen muss. Statt schwelgen zu können, ist er stets zur produktiven Aufmerksamkeit bewegt.

Dies ergibt eine Verfremdung, die sich bei der Übertragung ins Deutsche potenziert. Wo dem koreanischen Rezipienten wohl vertraute Bilder zu Hilfe kommen, muss der deutsche Leser sich erst orientieren. Nur ein Detail verrät zunächst, dass die Handlung in den fünfziger Jahren, nach dem Koreakrieg, situiert ist. Im Dorf, das zunächst fernab von jedem anderen und gar technisiertem Leben anmutet, hält dann plötzlich doch ein Bus. Kims Welt ist weniger archaisch, als sie zunächst scheint; doch wird der Eintritt der Moderne nicht zum Konfliktstoff.

Die Übersetzung durch Hyunsook Youn-Groß und Nikolaus Groß scheint solide, in den lyrisierenden Passagen eher an der Beschreibung orientiert als am nachdichterischen Wagnis. Nicht übersetzbare Details, Bezeichnungen für traditionelle Bekleidung, die Technik der Bodenheizung etwa, sind im Koreanischen belassen und durch Fußnoten erläutert. Das Fremde wird durch diese kluge Entscheidung bewahrt, ohne dass es ins billig Exotische abglitte. Eher tritt das Gegenteil ein: Die verfremdeten Konflikte werden als übertragbare deutlich. Der Bruch mit der Kindheit, die Macht und Überwindung sozialer Kontrolle mögen im Detail unterschiedlich verlaufen. Dennoch sind die Grundfragen ähnlich, repräsentieren die Kulturen der Moderne Schattierungen eines Gleichen. Andernorts werden nun die Konflikte innerhalb der Moderne militärisch ausgekämpft; bei Kim dagegen ist zu lernen, wie die souveräne Missachtung taktisch verwendeter traditionalistischer Werte in einen Raum der Freiheit führt.

Titelbild

Kim Jooyoung: Der Stachelrochen. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Hyunsook Younn-Groß und Nikolaus Groß.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2001.
206 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3929181347

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