Zwischen Kafka und Canetti

Hermann Ungars Romane und Erzählungen in der Ausgabe "Sämtlicher Werke"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Griseldis ist die passive und demütige Heldin einer volkstümlichen Erzählung; zum Beweis ihrer Liebe bringt sie alle Opfer und erträgt alle Erniedrigungen, die ihr misstrauischer Ehemann ihr abverlangt.

Als Frauentypus bezeichnet Griseldis seit Boccaccios "Decamerone" eine männliche Wunschvorstellung: das Phantasma der absolut treuen Frau, weniger Gefährtin als der bessere, ideale Teil des männlichen Selbst. Die Sehnsucht nach Selbsterhöhung und -erlösung durch eine Symbiose, die in der Vereinnahmung der Frau durch ihren Herrn und sein Haus ihre Erfüllung findet, beherrscht auch den Lehrer Josef Blau in Hermann Ungars Roman "Die Klasse" aus dem Jahr 1927. Blau bewegt seine schwangere Frau Selma dazu, ihren Leib in bodenlangen Röcken zu verbergen, die Öffentlichkeit zu meiden und ihr Haar zu scheren. Doch selbst Selmas Demut gibt Anlass zu Misstrauen und Scham. War zuvor das lange blonde Haar Zeichen sexueller Willfährigkeit, so wird nach der Selbstverstümmelung der kahle Schädel seiner Frau für Blau zur Insignie des Obszönen. Schämte er sich zuvor ihres schwangeren Körpers, weil dieser die Folgen des sexuellen Aktes zur Schau stellt, so erträgt er später die Kahlheit nicht, weil sie von der seelischen Intimität zwischen den Eheleuten und von der Verlustangst des Mannes zeugt. Selmas Beteuerung "Ich habe keinen anderen außer dir", ist für Blau eindeutiger Beweis: "Der andere war schon in ihrem Gehirn. Sie wusste schon, dass sie einen anderen nicht hatte. Sie war vorbereitet, den anderen zu empfangen, der ihr begegnen würde, vielleicht ihr schon begegnet war."

Wenn es dem ichschwachen Lehrer am Ende gelingt, seiner Frau (und damit dem Leben) zu vertrauen, so ist seine Erlösung am ehesten erklärbar als Reflex auf die Tradition des Griseldis-Stoffes oder als Rücksicht auf den Publikumsgeschmack, jedenfalls völlig untypisch für das schmale, heute weitgehend unbekannte Werk des Prager-deutschen Autors (1893-1928) jüdischer Herkunft. Der Igel Verlag liefert nun in einer Ausgabe Sämtlicher Werke in drei Bänden alle überlieferten Werke sowie ausgewählte Briefe mit kritischem Kommentar. Die bisher erschienenen Bände mit den Romanen "Die Verstümmelten" (1923) und "Die Klasse" und den Erzählungen (u. a. dem glanzvollen Debüt "Knaben und Mörder") haben nicht zuletzt durch die instruktiven Nachworte alle Aussicht, den Autor aus dem Schatten Kafkas heraustreten zu lassen.

Im bürgerlichen Leben Jurist in diplomatischen Diensten, bewegte Ungar sich als Schriftsteller in der Prager Bohème. Dort wenig beachtet und von prominenten Vertretern der Prager-deutschen Literatur wie Max Brod oder Willy Haas kaum gewürdigt, fand er mit "Die Verstümmelten" die Anerkennung von Kurt Pinthus und Thomas Mann. Letzterer attestierte dem Werk eine "groteske Sakramentalität des Sinnlichen" und sorgte für die posthume Herausgabe verstreuter Erzählungen im Band "Colberts Reise" (1930).

Grotesk, sakramental und sinnlich - das charakterisiert Ungars Erzählkosmos recht gut. Die verstörende Wirkung seiner Texte beruht auf dem Missverhältnis von Erzählen und Erzähltem. Die grausamen, oft perversen Erlebnisse und körperlich wie moralisch ungeheuerlichen Erfahrungen der männlichen Protagonisten übersteigen das Vorstellungsvermögen und werden doch mit der Ruhe des Selbstverständlichen, in einfachen Worten, kurzen Sätzen, im unaufgeregten Ton zwingender indikativischer Folgerichtigkeit mitgeteilt. Die anankastischen Rituale, mit denen sich die kleinen Beamten aus einfachsten Verhältnissen gegen das bedrohliche Chaos des Alltags und die Überforderung durch Sexualität abschotten, wirken deshalb ebenso plausibel wie das Feindbild, auf das sie reagieren: das Schreckensbild der fleischlich-abstoßenden, körperlich überlegenen, vital-geistlosen Frau, die, von Geldgier und Sexualtrieb beherrscht, den sensiblen und sozialängstlichen Mann unterwirft, vergewaltigt, öffentlich demütigt und seelisch vernichtet. Als Zimmerwirtin, Haushälterin und Köchin taucht dieser Frauentypus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur vermehrt auf: in den Werken Franz Kafkas und Robert Walsers, bei Elias Canetti und - in der vielleicht drastischsten Weise - bei Hermann Ungar. Die Körperangst, Frauenfeindlichkeit und Homosexualität, die in dieser Schreckensvision handgreiflich wird, "latent" zu nennen, hieße eine Tiefe zu suchen, die Ungars Texte - wenn überhaupt - an ihrer Oberfläche verbergen. Dort werden die Neurosen, der Selbsthass (oft in seiner antisemitischen Spielart), die Minderwertigkeitskomplexe, Hypochondrien und krankhafte Scham, die Affekte gegen Klein- und Großbürgertum, gegen Ehe, Familie und jede soziale Verantwortung zur Schau getragen und in Bilder körperlicher Verstümmelung gekleidet, die man magisch nennen kann; Bilder von solcher physisch bedrängenden Präsenz, dass jeder Versuch, sie als Symbole oder Metaphern zu entschärfen, scheitert. Ungars Geschichten von blutrünstigen Krankenpflegern, hurenden Witwen und verführten Jünglingen verweisen nur vorderhand auf ein außerhalb ihrer selbst Liegendes - die Gesellschaft der Moderne, das Gesetz des Vaters, die das Individuum vernichtende Macht der Ökonomie. Die rationalisierten Feindbilder muten geradezu harmlos an. Ihre Abstraktheit macht sie dem Intellekt kompatibel und deshalb kommensurabel im Gegensatz zu den Albtraumbildern, deren Anschaulichkeit die Erfahrung von Wirklichkeit nachhaltig verändert. Für Franz Polzer, der scheinbar als Mörder "Die Verstümmelten" verlässt, ist der Scheitel ein solches Bild. Der Scheitel, der das Haar seiner Tante teilt, die er in einer kindlichen Urszene beim Inzest mit dem Vater zu ertappen glaubt, enthält die Drohung der Sexualität, die Macht der Frau und die Unheimlichkeit des eigenen, dem Begehren ausgesetzten Körpers. Wenn die Witwe Porges, die den wehrlosen Polzer handgreiflich verführt und durch sein Versagen beim Geschlechtsakt beschämt, ihren Scheitel auch nachts nicht löst, erneuert sich das Inzest-Trauma, und der Scheitel wird zum Inbild des weiblichen Geschlechts und dessen bedrohlicher Lust-Macht und Macht-Lust, die den Mann in schuldbeladenen Selbsthass treibt. Die Wahnidee, das Kind, das die Witwe von ihm erwartet, könne als Mädchen das Kains-Mal der Weiblichkeit tragen, den "offenen greuelhaften Spaltstrich zwischen den Schenkeln", eine Art genitalen Scheitel also, leitet ein Mordszenario ein, das mit der Enthauptung der Schwangeren endet. Der Versuch, ihr Haar zu lösen, um die Drohung des Scheitels zu überwinden, bringt zu Tage, was die Frau unter ihrem Haar verbarg, was der eigentliche Inhalt ihres Kopfes war: jenes Geld, das sie durch Erpressung, Prostitution, Diebstahl und Betrug an sich brachte - für ihr Kind. An monströser Eindeutigkeit lässt diese Stellungnahme zu Mutterschaft, Fortpflanzung und Familienidylle nichts zu wünschen übrig, an ästhetischer Suggestionskraft auch nicht.

Titelbild

Hermann Ungar: Sämtliche Werke in drei Bänden. 1. Romane.
Herausgegeben von Dieter Sudhoff.
Igel Verlag, Oldenburg 2001.
352 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3896211242

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Titelbild

Hermann Ungar: Sämtliche Werke in drei Bänden. 2. Erzählungen.
Herausgegeben von Dieter Sudhoff.
Igel Verlag, Oldenburg 2002.
266 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3896211250

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