Der amputierte Panther

Gisela und Ulrich Häussermann und ihr tristes Rilke-Potpourri

Von Felix MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rilke-Sammelbände gibt es zuhauf. Nicht nur zum Jubiläumsjahr 1996, wenn auch da mit besonderer Stärke, brandete eine Flut von Neuerscheinungen durch die Verkaufsräume der Buchhandlungen. Anthologien, Breviere und Lesebücher erwarten den Leser inzwischen auf jeder Buchmesse - und seien es auch nur zweitrangige Kuriositäten wie "Rilke für Gestreßte" oder "Mit Rilke durch die Provence".

Das Übermaß der Neuerscheinungen zeugt von einer Popularität, mit der recht wenige deutschsprachige Lyriker mithalten können. Längst haben Rilkes "volksliedhaft zarte, schwermütig-musikalische Gedichte" (Fritz Martini) Eingang in die Massenkultur gefunden: In Penny Marshalls Film "Zeit des Erwachens" dient der überstrapazierte "Panther" als Gleichnis für die Parkinson'sche Krankheit, und während des letzten Bundestagswahlkampfes sah man Gerhard Schröder im Fernsehen mit windzerzaustem Haar vom treibenden Blattgut des "Herbsttages" erzählen.

So viel Zuspruch muss Gründe haben. Es ist wohl vor allem die hochmelodiöse, klingende Sprache Rilkes: Kaum jemand hat den Satz "es schlafe ein Lied in allen Dingen" so überzeugend in Dichtung umzumünzen vermocht wie er. Von "Klängen" sprechen auch Gisela und Ulrich Häussermann, von "Durchblicken", von "sinnlicher Fülle und Farbigkeit" der Gedichte Rilkes. Die "Hundert Gedichte", die das Herausgeberpaar für den Aufbau Verlag zusammengestellt hat, sind für "freie, unblasierte" Leser gedacht, die, wie wir im Nachwort lesen, "frisch und neugierig das Rilke-Haus betreten".

Man stutzt und fragt sich: Ist dergleichen wirklich noch nötig? Wenn es schon nicht die vollständige, im Insel Verlag erschienene Ausgabe sein soll: Ist man dann nicht mit der umfangreichen Auswahl Dietrich Bodes (Reclam) weitaus besser bedient? Nun ließe sich einwenden, mit knappen 30 Mark sei diese auch etwas teurer geraten. Aber wenn schon gespart werden soll: Warum sollte man dann nicht zu Franz-Heinrich Hackels Gedichtauswahl "Dies Alles von mir" greifen, die kürzlich bei dtv erschien und für nur 12,50 Mark zu haben ist? Sie enthält - neben einer repräsentativen Werkschau - wenigstens die komplette "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke", von der in der Häussermann'schen Ausgabe noch nicht einmal im allzu knappen Nachwort die Rede ist. Was also spricht für die "Hundert Gedichte"?

Nicht viel, eigentlich nichts. Dass "zwischen den sehr bekannten, längst klassisch gewordenen Texten offenere, beiläufig entstandene neu zu entdecken" seien, möchte man den Herausgebern nicht recht abnehmen - allzu sklavisch haben sie dem Diktat des Kanons Gefolgschaft geschworen. Zuverlässig kann man in den "Hundert Gedichten" alle Verse finden, die bei einer kürzlichen Abstimmung auf der Internetseite www.rilke.de ("Welches ist ihr Lieblingsgedicht?") auf den vorderen Plätzen landeten - der "Herbsttag" etwa, die "Liebenden", die "Hortensie" und, natürlich, der "Panther". Nun spricht nichts dagegen, solch gewichtigen Klassikern erneut den Raum zu bieten, den sie verdienen. Nur sollte man dann nicht vollmundig Entdeckungen verheißen. Einem neuen Rilke, einem Dichter, der nicht nur empfindsam und gravitätisch, sondern auch heiter und leicht sein konnte, kommen die Häussermanns jedenfalls nicht auf die Spur. "Jahrzehntelang galt es, vor allem in Westdeutschland, als schick, über Rilke zu lächeln - über seine unpolitischen Themen und einsamen Gedankengänge, den leisen, versponnenen Ton oder die elitäre Biographie."

Gewiss: Man kann auch mit dieser Sammlung diesem bemerkenswerten Dichterleben nachspüren - für wie "elitär" man es auch halten mag. Schon die Anfänge sprechen vom Fremdsein, das Rilke zeit seines Lebens begleiten wird. Die frühen Gedichte, kurz vor der Jahrhundertwende in Berlin und Prag entstanden, sind freilich nicht immer frei von naiver Selbstüberhebung: "Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt / in euch?", fragt der gerade 21-jährige Rilke etwa 1896, um gleich darauf siegesgewiss zu verkünden: "Ich trage ein Stück Ewigkeit / in meiner Brust". Doch ist diesen triumphierenden Sentenzen zugleich schon jenes Fremdsein eingeschrieben, das noch auf dem Totenbett in Val-Mont über den fiebernden Rilke wachen wird:

"Bin ich es noch, der da unkenntlich brennt?

Erinnerungen reiß ich nicht herein.

O Leben, Leben: Draußensein.

Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt."

Die weiteren Gedichte des Bandes richten sich nach der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung, wobei dem "Buch der Bilder" und den "Neuen Gedichten" gegenüber dem "Stunden-Buch" ein Vorrang gewährt wird, den zu erklären das Nachwort leider versäumt. Dies wäre noch erträglich, würde nicht die Sprach- und Klangfülle der späten Dichtungen hier in geradezu amputierter Form aufgeboten. Die Herausgeber begnügen sich damit, das Spätwerk "spröde" und "intellektuell" zu nennen, und so hat es mit dem Nötigsten sein Bewenden: Aus den Sonetten an Orpheus wird nur knapp zitiert, die "Duineser Elegien" werden dem Leser, warum auch immer, ganz verschwiegen. Gekrönt wird das Sammelsurium von einer ärgerlich unvollständigen Datentafel, die mehr verschleiert als erklärt. Kein Wort von Rilkes rastloser Reisetätigkeit zwischen 1910 und 1914, nichts zu den Kriegsjahren und den produktiven Krisen des Dichters. Was die Tafel im Kleinen tut, macht die Anthologie im Großen: Der Leser wird von Puzzleteilen überschüttet und müht sich vergebens, sie zusammenzusetzen.

Titelbild

Rainer Maria Rilke: Hundert Gedichte.
Herausgegeben von Gisela Häussermann und Ulrich Häussermann.
Aufbau Verlag, Berlin 2000.
144 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3351028997

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