Ästhetik der Intoxikation

Gerhard Kaiser untersucht Erzählstrategien in Thomas Manns Roman "Doktor Faustus"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im März 1943 findet sich unter den Notizen Thomas Manns eine vielsagende Skizze für eine mögliche Novelle, bei der es sich "um das Verlangen" handele, "aus dem Bürgerlichen, Mäßigen, Klassischen, Apollinischen, Nüchternen, Fleißigen und Getreuen hinüber ins Rauschhaft-Gelöste, Kühne, Dionysische, Geniale, Über-Bürgerliche, ja Übermenschliche" zu gelangen. Weiter heißt es, "die Sprengung des Bürgerlichen, die auf pathologisch-infektiöse und desintegrierende Weise" vor sich geht, sei "zugleich politisch": Ein "Geistig-seelischer Faschismus: Abwerfen des Humanen, Ergreifen von Gewalt, Blutlust, Irrationalismus, Grausamkeit, dionysische Verleugnung von Wahrheit und Recht, Hingabe an den Instinkt und an das fessellose 'Leben', das eigentlich der Tod und als Leben nur Teufelswerk, gifterzeugt, ist. Der Faschismus als vom Teufel vermitteltes Heraustreten aus der bürgerlichen Lebensform das durch rauschhaft hochgesteigerte Abenteuer des Selbstgefühls und der Über-Größe zum Gehirn-Collaps und zum geistigen Tode, bald auch zum körperlichen führt." Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass viele der in Manns Opus magnum "Doktor Faustus" angewandten ästhetischen Kunstgriffe, die moderne Kunst in Verbindung mit dämonologischen und faschistischen Phänomenen zu bringen, aus Nietzsches Philosophie, konkreter aus seinen Vorstellungen einer 'Ästhetik der Intoxikation' entlehnt wurden. In der "Götzen-Dämmerung" etwa propagiert dieser: "Der Rausch muß erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches."

Ein weiterer poetologischer 'Waschzettel' für den "Doktor Faustus" findet sich in dem viel zitierten Brief an Theodor W. Adorno vom 30. Dezember 1945 und dann in der "Entstehung des Doktor Faustus", in der Mann explizit auf das Prinzip der "Montage" zu sprechen kommt. In dem Schreiben an Adorno verweist Mann auf eine Erzählstrategie, die er kokettierend als eine "Art von höherem Abschreiben" bezeichnet. Mit Gerard Génette lassen sich diese subkutanen Erscheinungen als Phänomene der Transtextualität bzw. der textuellen Transzendenz bezeichnen. Gemeint ist die Tatsache, dass Thomas Mann exorbitant viele Texte und Realien bedenkenlos in seinen Roman übernommen hat: Biographica Nietzsches, die Reihentechnik Schönbergs, die Musikphilosophie Adornos u. a. m. Der traditionelle Gegenbegriff zu der hier beschworenen Poiesis ist die goethezeitliche Forderung nach dem ,organisch' gestalteten Kunstwerk, das entweder auf natürliche Weise gewachsen ist, oder "als seliges Diktat empfangen wird", wie der Teufel im "Faustus" mit Nietzsche sagt. Das organische Kunstwerk setzt eine Art Irrationalität des schöpferischen Vorgangs voraus. Zwar wird heute auch in den Produkten der Genie- und Originalitätsästhetik des Sturm und Drang das handwerklich Produzierte, also die Mechanik des Verfahrens betont, aber der Maßstab des Organischen bleibt insofern sinnvoll, als Thomas Manns eigenes Bestreben auf den Schein apollinischer Geschlossenheit gerichtet blieb. Diese Annahme lässt sich dadurch erhärten, dass der Autor sich größte Mühe gibt, die möglichen Risse und Bruchstellen, die durch die vielfältigen intertextuellen Echos entstehen könnten, zu ,verkleben' und zu kaschieren. Die Bruch- und Schnittkanten der zitierten und einmontierten Textfragmente werden ,abgeschmirgelt', so dass die drohende Zerstörung des ästhetischen Scheins verhindert wird. Diese Ambivalenz machte es evident, wie Gerhard Kaiser in seiner Siegener Dissertation unterstreicht, dass es sich bei dieser im "Faustus" verwendeten Technik keineswegs um den erzählstrategischen Ausdruck eines modernen oder gar postmodernen Schreibens handelte. Statt dessen ist diese Selbstzuschreibung als ein "Akt nachträglicher Rezeptionslenkung" zu deuten, die in ihrem Rekurs auf Paradigmen des modernen westeuropäischen Romans der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein experimentelles und neuartiges Schreiben suggerierte.

Der Begriff der "Montage" und die Realisation des "Doktor Faustus" als eines mehrschichtigen Strukturgefüges (Künstlerroman, Faustroman, Gesellschaftsroman, Deutschlandroman) könne somit nur als ein semantisches Strategem Manns aufgefasst werden, mit dem er sich in den Diskurs über die literarische und ästhetische Moderne einzuschreiben versuche. Folglich sei der "Doktor Faustus" mitnichten eine Absage an das künstlerisch ordnende Spiel zugunsten eines postmodernen Gewimmels der Zeichen. Zu dieser überlegenswerten Deutung gelangt Kaiser durch eine ausführliche und konzise Untersuchung der Meta-Erzählstrategien der Texte aus dem Umfeld des "Faustus". Dies geschieht zum einen am Beispiel einiger, vor allem in der "Entstehung des Doktor Faustus" platzierter Selbstaussagen bezüglich des eigenen Romans, und zum anderen anhand eines skizzenhaften Vergleichs zwischen James Joyces "Ulysses" und Manns "Doktor Faustus", der schließlich zu einer gattungsgeschichtlichen Einordnung des Mann'schen Romans zwischen Tradition und Moderne führt. Im Vordergrund stehen für Kaiser die Beschreibung und die Analyse der grundlegenden Erzählstrategien des Textes. Damit einher geht die Erörterung der aus der extremen Komplexität der Erzählebenen im Roman resultierenden Probleme und Fragwürdigkeiten, mit denen sich Interpretationen des "Doktor Faustus" konfrontiert sehen müssen. Konkret dargestellt wird die von Mann konstruierte Erzählsituation, die durch die Einschaltung eines Narrators in Gestalt des Biographen Serenus Zeitblom bestimmt ist. Im Anschluss an diese Analyse stellt Kaiser den Gebrauch der Erzählstrategie der Leitmotiv-Technik ausführlich dar und erörtert sie in ihren Konsequenzen für Form und Inhalt des "Doktor Faustus". Dieser Nachweis eines unter der Oberfläche des Romans auf subtile Weise ausgebreiteten leitmotivischen Netzes dient Kaiser als Beleg für die Hypothese, dass "die formale Struktur auch von Manns Altersroman maßgeblich von der durch Wagner inspirierten Leitmotivtechnik" geprägt sei. Gleichzeitig wird damit der vielfach postulierte Einfluss der Schönberg'schen Reihentechnik und weiterer daraus abgeleiteter zahlenmystischer Konstruktionsprinzipien auf die formale Struktur des Romans revidiert.

Von erheblichem Interesse ist Kaisers Schlussfolgerung, dass das "durch die Leitmotive geknüpfte Netz symbolischer Beziehungen, Verweise und Anspielungen" derart dicht und komplex konstruiert wird, dass der oberflächlich beibehaltene, über das narrative Medium Zeitblom vermittelte kausal-lineare Erzählgestus durch die musikalisierten Tiefenstrukturen des Romans beständig suspendiert wird. Die einzelnen Textbausteine erscheinen allegorisch derart aufgeladen, dass ein eindeutiges Verhältnis zwischen Signifikanten und Signifikaten nicht mehr rekonstruierbar ist. Den jeweiligen Signifikanten steht eine kaum noch zu entwirrende Vielzahl an potentiellen Signifikaten gegenüber. Unter Rekurs auf Derrida könnte man dieses Spiel der Zeichen, das ein Spiel von Bedeutungssetzung und zugleich Bedeutungsauslöschung ist, als Dissémination bezeichnen.

Durch diese Polysemantizität entsteht, wie Kaiser zu Recht unterstreicht, der Gedanke an jene "organisierte Sinnleere" bzw. an jene "Leere höherer Ordnung", die Adorno in seiner "Philosophie der neuen Musik" als Signum der modernen Kunstanstrengungen bestimmt. Trotz dieser Auflösung der semantischen Relationen in der Tiefenstruktur des Romans bleibt jedoch die Oberflächenstruktur des Romans insofern intakt, als die syntaktischen, morphologischen und phonologischen Kohärenzen des Textes nicht angetastet werden. Diese Ambivalenz der Darstellung, die Kaiser im Anschluss an Jürgen H. Petersen gut herausarbeitet, hat zu mannigfaltigen Spekulationen bezüglich der Gelungenheit des "Doktor Faustus" geführt. Gerhard Kaiser selbst neigt der Hypothese zu, dass die hybride Romankonzeption im Roman selbst, vor allem durch die von Thomas Mann angestrebte epische Exaktheit, zu einem strukturellen Defizit an Stimmigkeit führe. Seiner Meinung nach erscheint der Roman "gerade in seinem erzählstrategisch virtuosen Scheitern daran, Disparates ästhetisch zu harmonieren, d. h. die Desintegrationen einer modernen Welt zumindest in der bis zum Äußersten gespannten, geschlossenen Form des Kunstwerks noch aufzuheben, als literarisches Dokument einer ungewollten Modernität". Darüber hinaus betont Kaiser, dass die epische Spiegelung der Diffusion des Daseins, als "Schibboleth der modernen Literatur" bezeichnet, im "Faustus" durch den formalen Rigorismus des Autors, an der "Erzeugung vermeintlich sinnstiftender Kohärenzen" festzuhalten, "künstlerisch gebändigt und semantisch homogenisiert" werde. Gegenüber dem modernen dionysischen und formsprengenden Pathos epiphanischer (Kunst-)Wahrheiten insistiere Thomas Mann vielmehr auf der "apollinischen Ordnung des durchgeformten Kunstwerks".

Dabei verkennt Kaiser jedoch, dass Thomas Mann seit seinem frühen, Fragment gebliebenen Essay "Geist und Kunst" zwischen der Skylla einer modernen Erzählskepsis, eines dionysischen und radikalen Ästhetizismus auf der einen Seite und der Charybdis eines traditionellen, apollinischen Formkonzepts auf der anderen Seite mit beinahe selbstzerstörerischer Eleganz navigierte. Es ist meines Erachtens daher müßig, sich die Frage vorzulegen, ob diese Modernität intendiert ist oder nicht und welchen Grad sie erreicht. Das mag zu so grotesken Fragen führen, ob Joyce seine Modernität reißbrettartig geplant habe und daher 'moderner' sei als Thomas Mann. Kaiser hätte besser daran getan, seine zweifelsohne wichtigen Erkenntnisse - irreduzible Polysemie der Textbausteine und Diffusion der 'Wirklichkeit' vs. ,äußere', formalistische wie 'innere', thematische Ordnungsgrenzen des Textes, Bilder einer desintegrierten Welt und fragmentarische Ruinen der Kontingenz vs. Ubiquität der Kohärenzen, aporetisches Erzählen vs. traditionelles realistisches Erzählen - in ihrer 'Verkarstung', Disharmonie und Spannung stehen zu lassen, statt sie unnötig zu glätten. Mit etwas mehr Mut hätte sich daraus ein wirklich neuer und folgenreicher Blick auf den "Doktor Faustus" ergeben können.

Titelbild

Gerhard R. Kaiser: "...und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine.". Erzählstrategien in Thomas Manns "Doktor Faustus".
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
250 Seiten, 28,10 EUR.
ISBN-10: 3476452654

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