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Karl Günther Hufnagels Erzählung "Der Wiedergänger" konfrontiert mit einem verrückten Versuch von Vergangenheitsbewältigung

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"So weit ich mich erinnere, habe ich immer auf Hitlers Schulter gesessen. Jahrzehnte in jedem Fall. Wenn der den Arm hebt zu seinem Gruß, küsse ich die Hand. Ich schmecke das Blut. Mein Zustand ist der Rausch." So beginnen die schriftlichen Bekenntnisse eines Kranken, der in einer psychiatrischen Landesklinik interniert ist. Ein Arzt will sie bei seinem angeblichen Lieblingspatienten vorgefunden haben und dem interessierten Publikum zugänglich machen. "Mögen Sie darüber urteilen", heißt es in seiner Vorbemerkung, "ob ein krankes Hirn diese Aufzeichnungen diktiert hat." Wer einwendet, dass ihm ein solches Szenario durchaus bekannt vorkommt, denkt womöglich an Oskar Matzerath, den zu kurz geratenen Helden aus dem Roman "Die Blechtrommel" von Günter Grass. Auch dieser bringt ja seine Memoiren als Insasse einer psychiatrischen Anstalt zu Papier. Um einen Schelm von der Sorte Oskars handelt es sich hier zwar beileibe nicht, doch noch etwas hat der namenlos bleibende Ich-Erzähler, den Hufnagel uns präsentiert, mit dem berühmten Kleinwüchsigen gemeinsam: das stets betonte Künstlertum.

Es sei daran erinnert: Oskar nutzt seine Trommelkünste unter anderem dazu, seine Zuhörer mit ihrer individuellen Vergangenheit zu konfrontieren. Er nennt diesen akustischen Zugriff auf die sonst gut versteckten persönlichen Geheimarchive in jedermanns Seele die Kunst des "Zurücktrommelns". Auch Hufnagels Protagonist lehnt eine allzu selektive Gedächtnisfähigkeit ab. "Mir ist Arbeit an der Erinnerung zuwider, Erinnerung ist Selbstbetrug, der zutage fördert, was bequem ist, er dient gegen die jeweilige Lebensplage. Ich wähle nicht zu meinem Nutzen aus, lieber lasse ich mein Bewußtsein überschwemmen von der Gleichzeitigkeit allen Geschehens, nichts soll mir entkommen, ein Nacheinander ist mir fremd, ich suche den Zusammenhang der Dinge und Ereignisse." Die Kunst des literarischen Nachfahren Oskars ist das Schreiben: "Ich bin der Dichter", behauptet er selbstbewusst von sich. "Glauben kommt mir allseits entgegen, heftet sich an mich, sodaß ich den Ruch von Wundertätigkeit an mir bemerke." In der Klinik bezeichnet man ihn als "den Besonderen".

Interniert wird der Besondere deshalb, weil ihn Nachbarn bei einer lautstark gehaltenen Grabrede auf Hitler hören, dessen leibliche Überreste er in seinem Vorgarten verscharrt haben will. Denn er lacht nur über die allgemeine Ansicht, wonach der Diktator im Jahr 1945 verbrannt worden sei. Als Mensch gewordene Made will er den Leichnam für seine Zwecke erkunden, ja er nähre sich "noch immer von des Führers Fleisch, durch das ich mich bohre, ohne Unterlaß bemüht, die Seele zu finden". Das Geheimnis dieser Seele zu entschlüsseln scheint ihm die notwendige Bedingung dafür, um auch dem Verhalten der einstigen Mitläufer auf die Spur zu kommen. "Ich bin dabei", so liest man, "den Verbrecher zu erkunden und warum jeder in dem seine Heimat hat." Die ehemaligen Anhänger des Führers leben in derart geordneten Verhältnissen, dass selbst die Opfer, die man in Hitlers Namen zu verantworten hat, zuhause der Größe nach und nackt gestapelt liegen, sie bei Bedarf also leicht zugänglich wären. Die Leichen aber sind anscheinend nur für die ehemaligen Täter sichtbar, sie fallen nicht der Fäulnis anheim, von den Mumifizierten geht kein Verwesungsgeruch aus. Daraus könnten die Verantwortlichen folgern, dass auch ihre Schuld mit der ins Land gehenden Zeit nicht geringer wird. Doch weit gefehlt. Lakonisch heißt es nur: "Was nicht stinkt, kann nicht vorhanden sein."

Hufnagels Held aber scheut sich nicht vor auflösendem Aas, nämlich dem des Führers: "Schon stinke ich nach dir, ich darf mich freuen, ich habe mich nicht getäuscht. Sollen mich die Ahnungslosen für verrückt erklären, mögen die sich ekeln vor meinem Geruch, mich mißachten wegen meiner Verzweiflung, die sich nicht getrauen, ihre Augen zu öffnen. Ich bin im Besitz des Führers, du gehörst mir." Die metaphorischen Überreste sollen dem Dichter auf der Mission Vergangenheitsbewältigung behilflich sein, um die Mitwelt aufzurütteln und das offenbar noch immer gefangene Volk aus seinem Bann zu lösen: "Tinte, Papier und Druckerschwärze werden dein Ende bedeuten. Habe ich dich begriffen, magst du zur Hölle fahren. Was du Volk nennst, wird frei von deinem Zauber."

Er schreibt ein Stück, das zu der Therapie gehört, die der als krank Geltende sowohl den Mitpatienten als auch den Gesunden anbietet. In einer Art Totengespräch treten vier Personen auf: Mac ist Hitler, hinter der mit Lady Bezeichneten verbirgt sich Eva Braun. Jeanni ist ein in Bergen-Belsen umgekommenes Opfer und Monika eine angebliche Tochter Hitlers, über die Mac sich beschwert: "Sie hat gewagt zu leben, als ich schon tot war." Monika steht für das weiterexistierende Volk. Das Manuskript wird zwar innerhalb der Anstalt herumgereicht, zu einer Aufführung kommt es indessen nicht. Sein Arzt weiß dies zu verhindern: "Ihre Literatur ist keine Literatur, die für Menschen geeignet wäre, schon gar nicht für Kranke." Der Vertreter der Gesunden hält ein Plädoyer für den Sprung in den Fluss Lethe. Und dafür sei die Kunst des Dichters ungeeignet: "Sie erfüllt keine Aufgabe. Helfen Sie beim Vergessen. Vergessen zu können ist die Voraussetzung des persönlichen Gleichgewichts. Das gilt es herzustellen." Das Wühlen in den vergangenen Zeitläuften wird vom Therapeuten abgelehnt: "Sie haben sich verschmutzt, waschen Sie den Dreck ab, der an Ihnen klebengeblieben ist. Dann können wir weiterreden. Das Aufdecken des Untersten ist ein Zwang, dem Sie erlegen sind. Hier bei uns sind Sie, damit der sich lindere." Im Stillen antwortet der Dichter: "Die Art der Verschmutzung richtet sich nach der Beschaffenheit des Materials, mein Material sind die Menschen."

Hufnagels Erzählung entpuppt sich als ein beängstigendes Vexierspiel, in dem die Frage, wer denn gesund und wer krank ist, was Wirklichkeit und was Alptraum ist, nicht mehr beantwortet werden kann. In einem dunklen Gesicht etwa bringt der Dichter den toten Hitler in die Anstalt. Dieser aber wird durch die wie besessen jubelnden Kranken zum Leben erweckt. Er erhält, wie der leibhaftige Hitler, einen Teil seiner Kraft durch das Auditorium. Der Auftritt mutiert plötzlich zu einer kultischen Inszenierung, zu einem Parteitag en miniature. Umgeben von einem Fahnenmeer schreitet Hitler durch die ,via triumphalis' auf sein Rednerpult zu: "Meine Wahnsinnigen", sagt er, "ich habe euch gesucht, und wir haben uns gefunden." Tatsächlich hatte Hitler auf dem Parteitag im Jahre 1936 Ähnliches ausgerufen: "Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt - daß ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück." Hufnagels eindeutige Anspielung legt eines nahe: Der Ich-Erzähler führt dieses Deutschland als überdimensionierte Irrenanstalt vor und zieht ein ernüchterndes Fazit: "Das ist die Gesundheit, die angestrebt wird. Wohlbehagen breitet sich aus, die Gewißheit eines Heils, das alle verbindet, die Gemeinschaft ist hergestellt." Die Ärzte jedoch behaupten, dass dieser Hitler-Wiedergänger eine Erfindung des Dichters sei, "der wirkliche ein anderer gewesen, erklärbar mittels einer ihrer Methoden, mein Scheusal die Ausgeburt eines kranken Hirns".

Der Künstler lässt sich freilich von seiner Kunst nicht abbringen. Er begreift sich einerseits als das Medium der Opfer: Keiner könne ihn daran hindern, so meint er, "mit den vielen Zungen der Toten zu sprechen, die nur ich verstehe, die ich in Wörter bringe, die laut und deutlich sind, damit jeder sie hören kann". Andererseits will er aber auch den Hitler-Part geben: "Du wirst deinen Mund öffnen, und ich will deine Zunge sein. Heil werde denen, die du betrogen hast. Ich bin das einzige an Volk, was dir geblieben ist. Ich werde als Volkesstimme reden, in der Sprache des Führers, die sie verstehen und immer verstehen werden." Die Erzählung endet mit der öffentlichen Aufführung des Stücks auf dem Marktplatz einer Stadt. Die Schauspieler müssen vor den vielen Zuschauern - wie die Leichen in den heimischen Ablagen - nackt sein. Der Dichter glaubt an die kathartische Wirkung seines Werkes: "Die Sätze reinigen die Gegenstände von ihrem Schmutz. Am Ende würde die Kunst die Gemeinheit getilgt haben, wie ich es mit meinem Hitler vorhabe. Ich brenne Bilder des Grauens in die Herzen, hoffe auf Widerwillen, einen Widerstand, der den Schmutz austilgen will, ihn wegschüttet samt der Brühe, auf der er durch die Stadt schwimmt." Für die zuletzt ausbrechende Hybris des Ich-Erzählers steht die Überzeugung, dass seine Kunst des "Zurückschreibens" die Menschen verändert: "Nie mehr würde geschehen, was geschehen war."

Doch das Unterfangen, von dem man nicht mehr weiß, auf welcher Bewusstseinsebene es stattfindet, scheitert. Die Schauspieler werden von den Zusehern gejagt, der Autor überlebt mit knapper Not. Danach aber trat, so formuliert es jedenfalls der herausgebende Arzt, eine psychische Gesundung ein, mit der sich dieser sehr zufrieden zeigt: "Ohne Seditativa einzunehmen verwandelte der Patient sich zu einem beruhigten Menschen. Seine Arbeit bei einer Versicherungsgesellschaft verrichtet er seitdem zur vollen Zufriedenheit der Firma." Der Bruch ist da, die Situation völlig umgekippt. So scheint schließlich der einzig Gesunde verrückt geworden an seiner krankhaft vergessenden Umgebung.

Titelbild

Karl Günther Hufnagel: Der Wiedergänger. Eine Erzählung.
Gemini Verlag Diana Kempff, Berlin 2001.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3935978030

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