Die Austreibung des Lesers aus dem Text

Die Prosa Heiner Müllers

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Band 2 der Werkausgabe Heiner Müllers, der die bedeutendsten Auszeichnungen für Literatur der beiden deutschen Staaten, Büchnerpreis (1985) und Nationalpreis 1. Klasse der DDR (1986) erhielt, versammelt nach den Gedichten 1998 nun die Prosatexte dieses vor allem für seine Dramen bekannten Autors.

Von Beginn der 50er Jahre an bis kurz vor seinem Tod verfaßte er immer wieder - meist sehr kurze - Prosatexte. Das große Verdienst des Herausgebers ist es, diese oft entlegenen oder nur im Typoskript vorhandenen Texte aus dem Nachlaß nun einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Editorisches Prinzip bleibt dabei Müllers Forderung nach "brutaler Chronologie". Die Entwicklung der produktionsästhetischen Seite wird dabei dem Datum der Erstveröffentlichung vorgezogen - angesichts der Verzögerung vieler Publikationen durch die staatliche Zensur der DDR eine sinnvolle Prämisse -, denn Ziel des Herausgebers ist es, "Zusammenhänge eines biographisch in vieler Hinsicht aufschlußreichen Entwicklungsprozesses [...] einsehbar zu machen" (Frank Hörnigk).

So stehen sich in diesem Band anekdotische Berichte, Notate, autobiographische Notizen und kurze Prosa-Skizzen gegenüber. In distanziert registrierenden Erzählprotokollen werden Details der Biographie festgehalten, etwa die Verhaftung des Vaters durch einen SA-Trupp, deren Schlüsselszenen sich später in den Dramen wiederfinden. Eine der mit Vorsicht zu genießenden Eigenaussagen des Autors scheint hier zuzutreffen: "Beim Prosaschreiben ist man ganz allein. Man kann sich nicht verstecken."

Vielen Texten gemein erscheint das Fragmentarische, das Unfertige, das zum Ausdruck von Müllers beweglich-ästhetischem Denken wurde, ein Denken, das nach einem Aufsprengen jeder formalen Konvention trachtete. Das zu bewegende Material ist rasch ausgemacht: die eigene Poetik, die Familie, das schriftstellerische Scheitern, der Traum, der Selbstmord der Ehefrau etc. Leicht zu entziffernde Stücke stehen neben sperrigen Textblöcken, "Der Bericht vom Grossvater" neben "Bildbeschreibung"; letztere arbeiten an der "Austreibung des Lesers aus dem Text" [Das Gefühl des Scheiterns..., S. 87]. Der "Todesanzeige" zum Selbstmord Inge Müllers ist hier eine Version aus dem Nachlaß in gegensätzlicher Perspektivierung beigegeben, dazu Müllers "Sektionsprotokoll / Nadeltraum" [Das lange Haar der Frau...]. Auch die zahlreichen Texte, die Heiner Goebbels für seine Hörstücke wie "aelstromsüdpol" oder "Der Mann im Fahrstuhl" (eigentlich Teil des Dramas "Der Auftrag") verwandte, oder das kurze Zwischenspiel für Robert Wilsons the "CIVIL warS" [film: Der Hof war verlassen...], sie alle können sich als eigenständige Textkörper behaupten. Überhaupt, es darf für das gesamte Prosawerk Heiner Müllers, ausgenommen einige wenige Arbeiten aus der Zeit der Produktionsstücke, geltend gemacht werden, daß es sich ohne weiteres als eigenständiger Teil seines beziehungsreichen Œvres behaupten kann.

Titelbild

Heiner Müller: Werke II: Die Prosa.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
190 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3518408844
ISBN-13: 9783518408841

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