Der Widerstand der Worte

„Elf Uhr“ von Gert Neumann – ein sprachlicher Kampf mit der DDR und dem Leser

Von Benjamin SpechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Specht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„‚Elf Uhr‘ ist bis heute das bisher unentdeckteste Buch der Gegenwartsliteratur geblieben. Ein Schicksal, das das Buch mit seinem Autor teilt“, schreibt Martin Walser in seinem Vorwort zur Neuausgabe von Gert Neumanns Roman. Walser beantwortet allerdings nicht die Frage nach dem Grund dieser Zurückhaltung. Warum fand dieses intelligent geschriebene Buch eines philosophisch und literarisch gebildeten Autors bisher so wenig Leser? Hier der Versuch einer Anwort.

Fast jeden Arbeitstag zwischen dem 24. Februar 1977 und dem 27. Februar 1978 zieht sich ein Betriebsschlosser in einem großen Leipziger Kaufhaus um elf Uhr zurück und schreibt kurze Episoden über Erlebnisse des Tages, seine Kollegen, Behörden, seinen Arbeitsplatz, vor allem aber über die Sprache der Poesie. Die Ergebnisse dieses Projektes legte der Autor 1981 im S. Fischer-Verlag unter dem Titel „Elf Uhr“ vor. Sie sind zu einem umfangreichen Roman zusammengewachsen, dessen Brisanz sich schon daran zeigt, daß er in der DDR nicht gedruckt werden konnte. Man bemerkt schnell, warum.

„Elf Uhr“ ist ein Versuch, Poetik und Poesie in einem Werk zu verbinden. Das Buch entwirft sein eigenes literarisches Programm und wendet es dann im Alltag der Arbeitswelt an. Dabei tun sich verschiedene Spannungsfelder auf: Würde und Determination, Ringen um poetische Konzentration und Alltagsleben, Moral und Lebenswirklichkeit, Verweigerung und Eingeständnis der Grenzen der eigenen Widerstandskraft. Alle diese Alternativen münden in die von „Realität“ und „Wirklichkeit“. Die „Realität“ wird repräsentiert von der sozialistischen Ideologie, jener vereinfachenden Weltinterpretation, die eine Sprache der Freiheit verhindert. Sie banalisiert und fixiert die Wirklichkeit, übt Macht aus und versucht so, Poesie unmöglich zu machen. Dem Erzähler begegnet sie zum Beispiel in Gestalt der Verlagsgutachter für sein Manuskript, im Gremium, das seine Zwangsexmatrikulation veranlasste, in „Sprachhandlungen“ seiner Kollegen – aber auch in der bloß polemischen Ablehnung des Systems. Die Wut über diese Sprach-Gewalten gipfelt in dem Satz: „Die ganze DDR ist ein einziges KZ“.

Indem man der Weltinterpretation der Diktatur eine andere entgegenstellt, läuft man jedoch selbst Gefahr, Mittel anzuwenden, die eine Sprache der Freiheit verhindern. Wie kann man diesem verheerenden Zirkel entgehen? Die Antwort besteht in der Berufung auf die poetische Wirklichkeit. Das bedeutet, im Sprechen über die Dinge eine Welt sichtbar zu machen, die beweist, daß jede einfache Deutung der Welt an deren Komplexität scheitert. Der Mensch befreit sich von der Diktatur, indem er sich auf diese Welt bezieht, die durch und durch individuell und machtfrei ist. Neumann schreibt: „Der Sieg der Poesie ist das einzige, moderne, Argument gegen die tödliche Gegenwartsgrammatik der Diktatur. Denn, die Diktatur repräsentiert die poetische Würde des Menschen: nicht.“

Daraus folgt, daß der Erzähler jeglichen Realismus der Darstellung ablehnt. Die poetische Wirklichkeit existiert nämlich nicht in den Dingen, auch nicht (nur) in der Sprache. Um sie zu fassen, muß man „endlich die Realität auflösen und in ihr Zeichen finden“, die „die genauen poetischen Pendants dieser Formen“ sind, die sich „aus Liebe, zu erkennbaren Figuren“ zusammenschließen. Bezüge zu Novalis‘ Poesiemodell werden hier deutlich. Das zeigt sich schon am häufigen Gebrauch des Wortes „Sinnbegabung“ aus Novalis‘ „Hymnen an die Nacht“ für den Zustand der poetischen Konzentration. Deutlich ist aber auch der Bezug auf Schillers „Ästhetische Erziehung des Menschen“, vor allem, wenn der Erzähler dem politischen Staat einen „ästhetischen Staat der Freiheit“ gegenüberstellt.

Immer wieder aber äußert der Ich-Erzähler die Angst, daß diese Modelle nur Luftgebäude sein könnten und zweifelt an der weltverändernden Macht der Poesie. Eine Entwicklung des Erzählers gibt es dabei nicht, vielmehr ein Schwanken zwischen dem Selbstbewußtsein eines „Sprachmenschen“ und der Angst, von der Realität verschlungen zu werden. Er spricht in diesem Zusammenhang von seiner Krankheit, die sich auch physisch in heftigen Kopfschmerzanfällen äußert.

Alles in allem sind viele anregende Reflexionen im Buch zu finden, dahinter tritt das Erzählen von Geschichten allerdings häufig zurück. Es geht dem Erzähler auch nicht um Geschichten, sondern um Sprache. Gert Neumanns äußerst anspruchsvolle Schreibweise ist anstrengend. Dazu trägt nicht nur die Komplexität der Gedanken bei, sondern auch Gert Neumanns eigene Interpunktion, die die Funktion hat, den banalen, statischen Sätzen der Diktatur seine unsichereren entgegenzustellen. Neumann schreibt, daß „in meinen Augen eine verständliche Schreibmethode die klare Entwürdigung eines Lesers sei, da sie ihn ausweglos deuten müsse“. Der Erzähler verhält sich introvertiert und wirkt isoliert. Auch diese Zurücknahme der Person hat ihren Grund: die (Auto-)Biographie in den Mittelpunkt zu stellen, hieße, vor der Realität zu kapitulieren und das Sprachthema zu verraten.

Wenig Geschichten, schwieriger Schreibstil, viel Theorie: das alles ist von Gert Neumann beabsichtigt und begründet, der Leser hat es schwer, auf die Schönheiten zu achten, die es in dem Werk zweifellos gibt. Gert Neumanns Roman ist also in einem doppelten Sinn „Widerstand der Worte“. Er leistet einem politischen System Widerstand, und sein Autor hat in diesen erfolgreichen Kampf Integrität bewiesen. Es ist zu befürchten, daß das Buch im zweiten Kampf, mit dem Leser, verlieren wird.

Titelbild

Gert Neumann: Elf Uhr.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
400 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3770145585

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