Auch Wissenschaftler können lernen

Eine Auswahl journalistischer Texte des Historikers Jürgen Kocka

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie reagiert man auf den 60. Geburtstag eines bedeutenden Historikers? Für die beinahe obligatorische Festschrift ist es eigentlich noch fünf Jahre zu früh. So werden manchmal - etwa bei Hans Mommsen - die wichtigsten Aufsätze des Jubilars veröffentlicht, manchmal - wie bei Hans-Ulrich Wehler - aber dennoch Beiträge von Kollegen gesammelt. Im Falle des Berliner Sozialhistorikers Jürgen Kocka haben sich seine Schüler und Mitarbeiter für eine andere Variante entschieden und in einem schmalen, leider viel zu teuren Band vierzehn seiner zahlreichen, für Tages- und Wochenzeitungen geschriebenen Artikel vereinigt. Einige von ihnen sind Stellungnahmen zu geschichtspolitischen Debatten wie dem "Historikerstreit" oder der Diskussion um das Berliner Holocaust-Mahnmal, andere befassen sich mit dem Themenkomplex "Nation, Aufklärung und Identität". Wegen Kockas wichtiger Rolle bei der "Abwicklung" der DDR-Geschichtswissenschaft nach der Wiedervereinigung sind einige seiner diesbezüglichen Beiträge vertreten. Abgerundet wird das Buch durch Reflexionen über die Zivilgesellschaft und die Geschichte der Arbeit.

Wer sich für die Geschichte der Geschichtswissenschaft interessiert, wird besonders bei den Artikeln aus den 1980er Jahren fündig. Kockas Aufsatz zum Historikerstreit ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der damals aufgekommenen These, wonach Deutschlands "Mittellage" für seine Abweichung vom westlichen "Normalweg" verantwortlich zu machen sei. Der Autor hält sie für "intellektuell anregend, aber letztlich unbefriedigend". Denn: "Die Definition der Mitte ist selbst ein historisches Phänomen und ändert sich mit der Zeit". Ebenso kritisch steht Kocka der damals von Michael Stürmer erhobenen Forderung gegenüber, die Geschichtswissenschaft müsse zur "Identitätsstiftung" beitragen. Hatte Letzterer den Historikern ein staatstragendes, affirmatives Selbstverständnis nahe gelegt, betont Kocka, der Identitätsbegriff müsse "Selbstdistanzierung und Reflexion" genauso einschließen wie "ständigen Wandel und immer erneute Kritik".

Eine durchgängig legitimatorische Funktion besaß die Geschichtswissenschaft in der DDR. Zwar öffneten sich - wie Kocka darlegt - ihre Historiker in den 1980er Jahren ein wenig gegenüber ihren westlichen Kollegen, aber letztlich wurden ihre Grundsätze doch von den politischen Instanzen vorgegeben. Nach der Wiedervereinigung stellte sich die Frage, nach welchen Kriterien über ihre Weiterbeschäftigung zu entscheiden sei. Als Mitglied des Wissenschaftsrates war Jürgen Kocka an der Evaluierung der ostdeutschen Forschungseinrichtungen beteiligt. Sofern die Wissenschaftler sich nicht durch Repressionsmaßnahmen gegenüber ihren Studenten oder durch die Verletzung zentraler wissenschaftlicher Prinzipien diskreditiert hatten, plädierte er für eine zweite Chance - schließlich seien oppositionelle Historiker vor 1989 kaum zu finden gewesen. Zudem ist sich Kocka sicher: "Auch Wissenschaftler können lernen".

Nach dem Zweiten Weltkrieg näherten sich die deutschen Historiker der nationalsozialistischen Vergangenheit nur langsam und oft in apologetischer Absicht. Ganz anders stellte sich die Situation nach der Wiedervereinigung dar: innerhalb kürzester Zeit schossen zahlreiche Projekte zur Erforschung der DDR aus dem Boden, nicht zuletzt wegen deren starker Förderung durch die Politik. Kocka, der einige Jahre das heutige Zentrum für Zeithistorische Studien in Potsdam leitete (das auch zu diesem Zweck etabliert worden war), verfolgt jene Vermischung von Wissenschaft und Politik mit gemischten Gefühlen. Eine große Gefahr sieht er in der "eilfertigen Bereitstellung tagespolitisch verwendbarer Enthüllungshistorie", andererseits begrüßt er verständlicherweise die ungewöhnlich großen Forschungsmittel. Zudem böten sich den Historikern auch praktisch-politische Betätigungsmöglichkeiten. Sie könnten, ja sollten für einen angemessenen, besonnenen öffentlichen Umgang mit zeithistorischen Dokumenten eintreten.

Stehen die so genannten "Sonderwegs-Historiker" oft unter konservativem Generalverdacht, sich gegen den Vergleich von NS- und SED-Diktatur zu sperren, so entkräftet Kocka diesen - ohnehin meist politisch motivierten - Vorwurf durch sein Plädoyer für ebendiese Betrachtung der beiden deutschen Diktaturen. Allerdings müsse der Vergleich nicht nur die Gemeinsamkeiten der Regime, sondern auch ihre Unterschiede benennen. Neben der seit ihrem Aufkommen in den 1970er Jahren vielfach kritisierten "Sonderwegthese" verteidigt Kocka auch die postnationale Orientierung, die trotz der Renaissance des Nationalstaats nichts von ihrer Legitimität verloren habe. In diesem Punkt unterscheidet er sich etwa von seinem Berliner Kollegen Heinrich August Winkler, der seine - ursprünglich ähnlichen - Ansichten seit der Wiedervereinigung völlig revidiert hat.

Obwohl der Blick der Historiker - nach Hans-Ulrich Wehler "rückwärtsgewandte Propheten" - zwangsläufig auf die Vergangenheit gerichtet ist, wagt Jürgen Kocka doch auch die eine oder andere Prognose. In einem Beitrag über die viel beschworene "Zivilgesellschaft" warnt er davor, ihr die Erfüllung der zentralen Aufgaben des Staates zu übertragen, da dies wegen der unterschiedlichen in ihr wirkenden Interessen nicht funktionieren könne. Und in einem Aufsatz über die Geschichte der Erwerbsarbeit bezeichnet er die Ergänzung der Arbeitseinkommen durch eine Teilhabe am Produktivvermögen als die "große sozialpolitische Aufgabe des neuen Jahrhunderts".

Jürgen Kocka hat eine eindrucksvolle Karriere hinter sich, vom jungen Nachwuchswissenschaftler, der auszog, um konservative Politikhistoriker das Fürchten und so manche Theorien zu lehren, zum Präsidenten des Internationalen Historiker-Verbandes. Manche der Artikel, wie auch das den Band abschließende Interview, das für ein Buch über die deutsche Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus entstanden ist, zeigen, dass er inzwischen teilweise selbst in die Defensive geraten ist, zuletzt in der Diskussion um die "braunen Wurzeln" der Sozialgeschichte auf dem Historikertag 1998. Aber diese Entwicklungen sind wohl auch auf den sich abzeichnenden Generationswechsel innerhalb der Historikerschaft zurückzuführen. Kocka ist sich jedoch glücklicherweise insofern treu geblieben, als er weiterhin an der Allianz zwischen Geschichtswissenschaft und Aufklärung festhält und - im Gegensatz zu den meisten Historikern der nachfolgenden Generation - immer noch zu Interventionen in (geschichts-)politischen Debatten bereit ist.

Titelbild

Jürgen Kocka: Interventionen. Der Historiker in der öffentlichen Verantwortung.
Ausgewählt und herausgegeben von Gunilla Budde, Christoph Conrad, Oliver Janz, Ralph Jessen und Thomas Welskopp.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001.
176 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3525362528

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