Gott ist tot

Ein Nachruf auf Pierre Bourdieu

Von Michael AnselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ansel

Gott ist tot. Kann diese Aussage nach Marx und Nietzsche noch irritieren oder polarisieren? Zumindest zu seinen Lebzeiten hat das Denken von Bour-DIEU eine erheblich polarisierende Kraft erzeugt. Bour-DIEU: Diese Schreib- bzw. Sprechweise war nicht immer bewundernd, sondern häufig bestenfalls spöttisch gemeint. Sie galt vornehmlich der Medienpräsenz des französischen Soziologen, dem es seit Mitte der 1980er Jahren gelungen war, sich zum Leidwesen seiner Kritiker auf effektive Weise öffentlichkeitswirksam zu inszenieren. Obwohl Bourdieus politisches Engagement für Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit zweifellos im Zusammenhang mit seinen soziologischen Forschungen stand, sollte man diese beiden Bereiche nicht vorschnell kurzschließen.

Bourdieu hinterlässt ein wegen seines Umfangs, seiner thematischen Bandbreite und seiner originellen Theoriearchitektur imponierendes Lebenswerk. Es gibt kaum eine Sparte aus dem weiten Spektrum der Sozial- und Humanwissenschaften, in der er nicht geforscht hatte. In seiner Universalität gleicht sein Werk der Summa theologica des Thomas von Aquin, der Geistphilosophie Hegels oder der Systemtheorie Luhmanns. Parallel zu Luhmann, zu dessen Ansatz sein Werk in einem spannungsvollen Konkurrenzverhältnis steht, hat Bourdieu eine ubiquitäre, nichtsubstantialistische und dezentrale Theorie des Sozialen entwickelt. Während Luhmann jedoch Gottes Herrschaft in das Reservat der ausdifferenzierten Religion einsperrte, erwies sich der als Bour-Dieu vergötterte oder verteufelte französische Soziologe vielmehr als Vertreter einer allumfassenden Gottesgelehrtheit, der die Tradition der Scholastik und des schon von Feuerbach und Nietzsche als verbrämte Theologie enttarnten Deutschen Idealismus unter den Vorzeichen der metaphysikfreien Moderne fortführte: "Gott, das ist immer nur die Gesellschaft. Was man von Gott erwartet, erhält man stets nur von der Gesellschaft. Nur sie hat die Macht, Anerkennung zu verleihen, der Faktizität, der Kontingenz, der Absurdität zu entreißen".

Diese Sätze (aus der Schrift "Sozialer Raum und 'Klassen'", dt. 1985) sind ernüchternd. Schon der Kryptotheologe Hegel hatte gewusst, dass das Denken sich davor hüten müsse, erbaulich sein zu wollen. Noch desillusionierender wird Bourdieus Aussage, wenn man sich den Status des von ihm thematisierten Gottes vergegenwärtigt. Seine Soziologie wird wesentlich durch das Erkenntnisinteresse motiviert, die Wahrnehmungs- bzw. Verdrängungsmechanismen freizulegen, welche die Mutation von Götzen zu Göttern ermöglichen. Bourdieu zeigt auf, dass sich "durch die soziale Magie [...] nahezu alles zum Gegenstand von Interesse und zum Kampfeinsatz erheben [lässt]" und dass die Anerkennung der Legitimität sämtlicher Formen der sozialen Praxis auf der Verkennung ihrer historisch kontingenten Produktionsbedingungen beruht.

Nicht nur in Anbetracht dieser breitgefächerten Gegenstandsbestimmung der soziologischen Analyse, sondern mehr noch wegen seiner Einsicht, dass in den kulturellen Diskursen entscheidende, für die Gestalt von Herrschaftsverhältnissen relevante symbolische Auseinandersetzungen um die legitime Interpretation der sozialen Welt stattfinden, nehmen die Themenschwerpunkte der Kunst und Kultur einen zentralen Stellenwert in Bourdieus Soziologie ein. Der Gottessucher Bourdieu wurde nicht müde, den seit dem Ende der Metaphysik scheinbar unauffindbaren deus absconditus im Bereich der kulturellen Produktion aufzuspüren und den keineswegs uneigennützigen Devotionsbekundungen seiner Priesterschaft nachzustellen. Davon zeugen "Zur Soziologie der symbolischen Formen" (1970), die gemeinsam mit fünf Koautoren verfasste Publikation "Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie" (1981), "Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft" (1982) und "Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes" (1999). Nicht nur in diesen Büchern, sondern in einer kaum überschaubaren Vielzahl weiterer Aufsätze, die teils in Zeitschriften, teils im Rahmen breiter angelegter, selbst besorgter Text- und Interviewsammlungen erschienen sind, hat Bourdieu die Ergiebigkeit und vielseitige Einsetzbarkeit des von ihm entwickelten Analyseinstrumentariums für literatur- und kunstsoziologische Fragestellungen nachgewiesen.

Angesichts dieser Tatsache ist nicht nachvollziehbar, weshalb die deutsche Literaturwissenschaft, insbesondere die Germanistik, bislang so zögerlich auf die von ihm bereitgestellten Theorieelemente reagiert hat: Es ist zwar schon einiges über sie geschrieben, aber nur wenig mit ihnen gearbeitet worden. Dies ist insofern problematisch, als nur konkrete Adaptionsversuche die fachspezifische Operationalisierbarkeit der für einen soziologischen Forschungskontext konzipierten Theoreme erweisen können. Nur mittels solcher Untersuchungen lässt sich methodologisch begründen und argumentativ ausloten, ob und wie sich diese Theoreme von der deutschen Germanistik reformulieren lassen, die wie jedes Fach über eine eigene disziplinäre Matrix literaturspezifischer Wissensbestände, Gegenstandsbereiche, Fragestellungen und Untersuchungsmethoden verfügt. Gleichwohl ist absehbar, dass auch die Erforschung der Götter der Germanistik, mögen sie nun Goethe oder George heißen oder den dii minorum gentium zugehören, von dem innovativen Erschließungspotential des Bourdieuschen Ansatzes nur profitieren kann. Jedenfalls wird eine verstärkt kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft künftig nicht umhinkönnen, sich intensiver als bisher mit Bourdieu zu beschäftigen.

Nachdem Luhmann 1998 verstorben ist, muss nun also Bourdieus Tod beklagt werden. Mit Heine, der seinerzeit den Verlust seiner Götter Hegel und Goethe betrauerte, möchte man lamentieren: "Les dieux s'en vont; - aber die Könige behalten wir". Es ist allerdings kein geringer Trost, dass wir wie damals Heine, der sich auf die Drachensaat des Pantheismus und Hegelianismus zu stützen vermochte, den Königen mit dem von Bourdieu entschieden vorangetriebenen Projekt der soziologischen Aufklärung entgegentreten können. Mit der Rolle des Göttersohnes Prometheus, der den Menschen das Feuer und die Wissenschaften gebracht hat, hätte sich der konfliktfreudige, den Philosophen abtrünnig gewordene Soziologe Bourdieu gewiss anfreunden können. Dass ein weiterer, durch den nachantiken christlichen Gott verkörperten Charakterzug sein Werk durchzieht, hätte er hingegen wohl entschieden zurückgewiesen: Bourdieus wissenschaftliches Debüt mit einem kaum beachteten Buch über die algerischen Kabylen im Jahr 1958 und seine 1993 vorgelegte, gemeinsam mit anderen Forschern erarbeitete und international großes Aufsehen erregende Interviewsammlung "La misère du monde" eint die Solidarität mit den sozial Stigmatisierten, die aus ethnischen und machtpolitischen Motiven als Primitive verachtet oder aus ökonomischen Gründen zu den Verlierern wirtschaftlicher Modernisierungsprozesse degradiert wurden. Das Anliegen, den Stimmen dieser Menschen Gehör zu verschaffen, verweist auf den barmherzigen, von sozialen Hierarchien völlig unbeeindruckten Gott. Auch Pascal, unter dessen Vorzeichen Bourdieu seine erst vor kurzem in deutscher Sprache erschienenen "Meditationen" gestellt hat, weil er sich von dessen Spott auf wichtigtuerische Weltweisheit und dessen Entlarvung sämtlicher Formen gesellschaftlicher Machtentfaltung als Mechanismen kollektiver Selbstverblendung angezogen fühlen musste, war von der Vorbildlichkeit dieses Gottes überzeugt. Beide wussten, dass der Gott der Gesellschaft ein krisenanfälliges Produkt der conditio humana und daher wenig verlässlich ist.

Der Gottessucher Bourdieu ist tot. Er starb am 23. Januar im Alter von 71 Jahren in Paris. Adieu Bourdieu - wir trauern.