Häsin und Igel?

Hans-Peter Krüger nähert sich der Geschlechterfrage auf dem Weg Philosophischer Anthropologie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lachen und Weinen - das sind nicht nur geschlechtsspezifisch konnotierte Zeichen zweier, nein vieler menschlicher Emotionen, sondern "Lachen und Weinen", so lautet auch der Titel eines 1941 erschienenen Buches des Begründers der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessner. Die tatsächliche oder vermeintliche Geschlechtsspezifik von Emotionen thematisiert er allerdings nicht - und der Begriff gender ist dem 1986 verstorbenen Philosophen vermutlich nie zu Ohren gekommen. Ganz im Unterschied zu Hans-Peter Krüger, seines Zeichens ebenfalls Philosoph. Zwar nimmt er mit dem Titel seines mehrbändigen Werkes "Zwischen Lachen und Weinen" nicht nur deutlich auf Plessner Bezug, sondern weiß sich ihm überhaupt verpflichtet. Doch im nunmehr erschienenen zweiten Band widmet er sich explizit der "Geschlechterfrage". Sie ist sein zentrales Thema, und ihr will er sich auf dem von seinem Mentor vorgezeichneten "Weg Philosophischer Anthropologie" nähern - und dabei über ihn hinausgehen.

Ausgehend von der These, dass die Philosophische Anthropologie die beiden "Sackgassen" vermeide, die die menschliche Lebensführung entweder "reduktiv [...] naturalisieren" oder aber "idealistisch [...] versprachlichen", unternimmt es der Autor, die "Spezifik menschlicher Lebewesen" aus dem "semiotischen Spiel der lebendigen Natur" zu begreifen und so die Trennung zwischen "reduktiven Naturalismus" und "Sprachidealismus" zu hintergehen.

Die Philosophische Anthropologie, so Krüger, vollführt "keine platonische Umdrehung aus dem Lebenszusammenhang heraus", um sich diesen vom Leibe zu halten, sondern im Gegenteil eine "naturphilosophische Eindrehung" in ihn hinein; womit schon angedeutet ist, dass der Dritte Weg der Anthropologischen Philosophie nicht etwa in der - aristotelischen - Mitte liegt, sondern doch recht nahe am Naturalismus entlang zu führen scheint. Mit und in dieser Eindrehung möchte Krüger "das Spiel der uns nötigen Möglichkeiten" ergründen, die er mit Plessner als "Kategorischen Konjunktiv" bezeichnet.

Sein nächster Schritt den Weg zur Behandlung der "Geschlechterfrage" zu bereiten besteht in der Feststellung, dass Sprache zwar unhintergehbar sei, hieraus jedoch weder folge, dass die Phänomene "nur sprachlicher Art" sein können, noch, "dass wir in der Rekonstruktion nicht auch ein Lebendiges selber in Anspruch nähmen". Von linguistic turn zu reden sei daher zu vage. Vielmehr gehe es um eine "performative Wende" im "Austinschen Sinn von Illokutionen und lebendigem Vollzug". Und last but not least um die Wiederaufnahme von Plessners Unterscheidung zwischen "Leib sein" und "Körper haben". Eine Differenz, die allerdings schon vor längerem von Gesa Lindemann in den Gender-Diskurs eingeführt wurde, wie Krüger natürlich weiß. Der eigene Körper, erläutert der Autor, sei "uns doppelt gegeben". Zum einen sei er uns, wie jeder andere Körper auch, vermittelt durch "Medien der Wahrnehmung" und durch "Medien der Interaktion" zugänglich. Insofern haben wir einen Körper. Dieser eigene Körper unterscheidet sich für den 'Besitzer' jedoch von jedem anderen Körper dadurch, dass er zusätzlich "unmittelbar empfunden und bewegt" werden kann. Insofern sind wir Leib. Aus diesem Doppelcharakter ergibt sich eine "konstitutive Ambivalenz". Menschen, argumentiert Krüger immer noch mit Plessner, leben also "in dem Spiel dazwischen, Leib zu sein und Körper zu haben". Die "Ausübung der ersten Person" bezeichnet er daher als "tätige[n] Vollzug der je eigenen Körper-Leib-Differenz".

Was aber heißt all das nun für die "Geschlechterfrage"? Mit Hilfe der Philosophischen Anthropologie verspricht sich Krüger, die Unterscheidung zwischen Sex und Gender "reformulieren" zu können. Die "Wesensbestimmung des Menschen" lasse sich weder in einen "alten Essentialismus hineinzwängen" noch könne sie in einen "beliebig werdenden Konstruktivismus" aufgelöst werden. Der Autor vermutet, dass das Problem, das zu dem einen oder dem anderen der beiden Fehler dränge, in einer Unterdeterminierung von Geschlechtszugehörigkeit begründet sei. "Menschlicher Lebensführung" sei zwar eine wie auch immer geartete Unterscheidung der Geschlechter notwendig, diese sei aber "weder biologisch noch soziokulturell eindeutig determinierbar". Für die Philosophische Anthropologie liegt es also näher, die Aufmerksamkeit auf den "geschichtsbedürftigen Zusammenhang" zwischen den beiden "Seiten" zu legen.

Inwiefern die Leib/Körper-Differenz das besser leisten können soll als die Sex/Gender-Unterscheidung, wird im Folgenden allerdings nicht ganz klar. Vielmehr verstärkt sich der Eindruck, dass Krüger trotz allen eifrigen Bemühens um 'Ausgeglichenheit' einem gewissen Biologismus näher steht als konstruktivistischen Ideen. Das beginnt noch verhältnismäßig vage mit Krügers Hypothese, dass man Sex als "körperleiblichen Habitus" und Gender als "soziokulturelle Rolle für einen Körperleib" auffassen soll. Doch klingt schon das ganz so, als liege das Primat beim Biologischen. In Krügers weiterem Argumentationsgang wird die Vermutung, dass er zur biologisch/essentialistischen Seite neigt, weiter genährt. So etwa, wenn er die Auffassung vertritt, dass es sich "sowohl beim Sex, dem biologischen Geschlecht, als auch beim Gender, dem soziokulturellen Geschlecht, um Körperbestimmung" handele. Doch dann bekommen diese Aussagen unvermutet ein Gegengewicht zur Seite gestellt: "Insofern man seinen Leib, der man ist, haben kann", so der Autor, "geht dies auf den soziokulturell vergleichbaren Umwegen der vermittelt erlernbaren Verkörperung seines Leibes als Sex und Gender". Diese unmittelbar an das Vorherige anschließende - allerdings etwas dunkel bleibende - Feststellung legt für sich genommen nun überraschenderweise ein Primat von Gender nahe. Sind also letztlich Sex und Gender, Körper und Leib, Natur und Diskurs unentwirrbar miteinander verschlungen?

Nicht ganz; zwar umgeht Krüger geschickt das Problem einer unerkennbaren "Natur an sich", indem er "unsere Natur" als etwas bestimmt, das sich bereits "von selbst" bewege und darum nie vollkommen "von selbst" geändert werden könne. Seine Schlussfolgerung lautet, dass Natur daher "die Grenze zur Erhaltung des Lebbaren" determiniere. Andererseits begründet bei Krüger - eher implizit als explizit - der biologische Sex tendenziell nicht nur das konstruierte Gender, sondern den Zusammenhang von Sex und Gender überhaupt. Denn dieser entstehe allererst durch den "Doppelaspekt" der "Bestimmungsweisen von Körper und Leib". Und hier sind wir im Zentrum von Krügers Argumentation, die darauf zielt zu zeigen, wieso das Leib/Körper-Verhältnis der sex/gender-Differenz den erkenntnisstiftenden Rang abläuft. Die Bestimmungsweisen als Körper oder als Leib gehören Krüger zufolge wesentlich zu den "anthropologischen Potentiale[n]", die überhaupt ermöglichen, zwischen "männlichen und fraulichen Eigenschaften" unterscheiden zu können. Daher gehe dieses anthropologische Unterscheidungspotential der Sex-Gender-Diffenzierung voraus, die es "schon immer in einseitiger Bestimmtheit" benutze. Mit dieser "Potentialfassung" drückt der Autor den "anthropologische[n] Respekt" vor dem faktum brutum aus, dass die Unterscheidung in Männliches und Weibliches von je her in allen Kulturen eine "große Rolle" gespielt habe, sie also kein "kontingente[r] Spuk der bisherigen und jetzigen Menschengenerationen" sei - als habe das jemals jemand behauptet. Nun schweigt Krüger zwar darüber, wem er einen solchen Irrtum anlastet, gemeint sein dürfte aber wohl Judith Butler, der er sich im abschießenden Kapitel zuwendet.

Zustimmend konstatiert er zunächst, dass sie sich seit "Körper von Gewicht" (1993, dt. 1995) "auf dem Wege der Wiederentdeckung jener Problemlage" befinde, die zu einem Vergleich mit der Philosophischen Anthropologie einlade. Allerdings habe Butler selbst ihre Entdeckung der "Unumgänglichkeit" Philosophischer Anthropologie nicht bemerkt. Krüger glaubt sich, dem schlauen Igel gleich, schon längst am Ziel, das die blinde Häsin Butler noch nicht einmal als solches erkannt hat. Die amerikanische Gender-Theoretikerin zitierend behauptet er jedenfalls, sie wolle "den 'Weg zu einer Rückkehr zum Körper'" finden. Schlägt man jedoch nach, stellt man fest, dass Butler an besagter Stelle etwas anderes sagt: dass nämlich das "Infragestellen" der "biologische[n] Basis" der "Besonderheit" von Frauen "ein Weg zur Rückkehr zum Körper" sein könne. Davon, dass sie für sich oder - was ja gemeint sein dürfte - dass ihre Theorie eine Möglichkeit zur "Rückkehr zum Körper" finden wolle, ist keine Rede. Das verwundert allerdings auch nicht, geht es Butlers Theorie doch auch nicht um die Frage, ob Körper existieren oder nicht, ob sie eher materiell sind oder eher Diskurs. Bei dieser Alternative handelt es sich vielmehr nur um eine zentrale Fragestellung der auf einem Missverständnis ihrer Theorie beruhenden Interpretation weiter Kreise deutscher Feministinnen. Hingegen versucht Butler, wie jüngst die Schweizer Philosophin Nicole Wachter treffend zusammenfasste (vgl. die Rezension ihres Buches "Interferenzen" in dieser Ausgabe), aufzuweisen, "dass der festgefahrene[n] Diskussion um den Grad der Materialität oder Diskursivität von Körpern ein semiologisch-epistemologisches Problem zugrunde liegt" und dass "physiologische Vorgänge oder die haptischen Dimensionen der Leiberlebnisse" von Butler "weder geleugnet noch negiert", ja nicht einmal thematisiert werden, sondern sie vielmehr die Frage verfolgt, "wie Effekte gerade von Plausibilität und Wahrheit in Diskursen produziert werden".

Wegweisend, so Krüger weiter, könnte Butlers Bezugnahme auf Austins Performativitätstheorie sein. Doch leider werde dessen Unterscheidung zwischen Illokution und Perlokution von der Gender-Theoretikerin in ihrem Sinne "zurechtgebogen". Einen solche Vorwurf aus der Feder eines Philosophen lesen zu müssen, befremdet nach mehreren tausend Jahren Philosophiegeschichte doch sehr, in denen kaum ein Begriff von zahllosen Umdeutungen verschont blieb. Nicht nur, dass es, wie Friedrich Eduard Beneke bereits 1820 in seiner "Erkenntnißlehre nach dem Bewußtsein der reinen Vernunft" feststellte, "wohl kein Wort" gibt, "welches nicht von irgend einem Philosophen in einer dem allgemeinen Gebrauch völlig zuwiderlaufenden Bedeutung gebraucht würde", auch haben PhilosophInnen bestehenden Begriffen selbstverständlich immer wieder - explizit oder implizit - ein eigenes Verständnis unterlegt, das sich nur im Kontext der je eigenen Philosophie erhellt und nur in deren Kontext sinnvoll ist. Absurd wäre es etwa, wollte man Marx den Vorwurf machen, er habe Hegels Dialektik-Begriff zurechtgebogen, dieser wiederum denjenigen Kants und sie und alle anderen den Zenons. Es gibt keine wahre Bedeutung von (philosophischen) Begriffen, die verbogen oder zurechtgebogen werden könnte. So listete Agnes Heller vor einigen Jahren mehr als zwanzig Bedeutungen des Begriffs "Subjekt" alleine im philosophischen Diskurs der Moderne auf.

Bei all seiner Kritik an Butler findet Krüger in ihrer Konzeption letztlich auch "Vorzüge": etwa dass sie die "Unhintergehbarkeit des - von vornherein - sozialen Charakters innerleiblicher Phänomene in allen Geschlechterbeziehungen erneut erschlossen" habe. Dieses Lob nimmt sich allerdings dürftig, ja zwiespältig aus. Wird Butler doch implizit jegliche Innovation abgesprochen und nur zugestanden, allbekanntes noch einmal wiederholt zu haben. Krüger verschweigt jedoch, wer seiner Auffassung nach Butlers Erkenntnisse vorweggenommen hat. Ein weiterer "deutlicher Vorzug" von Butlers Konzeptes bestehe in der "Markierung des Problems, worin die Spezifik unserer Psyche" bestehe: nämlich in der "eigenzeitliche[n] und dem Subjekt vorgängige[n] Modalität", die die "raumhafte Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Leben" ermöglicht. Doch auch hier mache sich eine Beschränktheit Butlers bemerkbar, die ihrer "Bindung" an Derridas Dekonstruktion und an die Psychoanalyse anzulasten sei. Folgt man Krüger, so hätte Butler wohl schon längst den Weg in die Arme der Philosophischen Anthropologie gefunden, wenn sie sich nur von ihrer "einseitigen Bindung an Derridas Dekonstruktion" und dessen "Popanzen" befreit hätte. Doch aufgrund ihrer Bezugnahme auf ihn und die Psychoanalyse gelinge es ihr nicht, "die Körper-Leib-Differenz in ihrem erotischen Charakter für die Geschlechterbeziehung zu elaborieren und Austins Performativitätstheorie in philosophisch-anthropologischer Richtung zu entfalten". Was allerdings auch gar nicht ihre Absicht ist.

Versöhnlich scheint Krügers Fazit zu sein, dem gemäß es "prüfenswert scheint", inwieweit sich der Leib/Körper-Ansatz von Gesa Lindemann und "Butlers Erschließung von Innerleiblichkeit ergänzen könnten".

Nun wird Krügers Buch zwar Butlers Ansatz nur in Maßen gerecht und leidet zudem an einer gewissen Körperlastigkeit, dennoch handelt es sich aufgrund seiner Überlegungen zur Relevanz der Philosophischen Anthropologie für den Gender-Diskurs um ein wichtiges Buch, dem eine aufmerksame Rezeption von VertreterInnen des Wissenschaftlichen Feminismus zu wünschen ist. Die Leib/Körper-Differenz, die Lindemann aus der Sicht der Soziologin zeichentheoretisch und phänomenologisch ausführte, unterlegt Krüger philosophisch. Sein "Dritter Weg Philosophischer Anthropologie" sollte daher gründlich daraufhin abgeklopft werden, inwiefern er für den Gender-Diskurs fruchtbar gemacht werden kann.

Titelbild

Hans Peter Krüger: Zwischen Lachen und Weinen. Band II. Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage.
Akademie Verlag, Berlin 2001.
422 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 3050035153

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