Rekonstruktion der Dekonstruktion

Nicole Wachter über Judith Butler und deutsche Körpertheoretikerinnen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorweg zu nehmen: Nicole Wachter hat mit "Interferenzen" ein wichtiges Buch "zur Relevanz dekonstruktiver Reflexionsansätze für die Gender-Forschung" und somit zur Rekonstruktion der Theorien Butlers vorgelegt, dem eine weite Verbreitung unter den deutschsprachigen Gender-TheoretikerInnen nur zu wünschen ist. Anhand einer genauen Lektüre von "Gender Trouble" und "Bodies that Matter" insistiert sie darauf, dass es sich bei der in Deutschland weitverbreiteten Butler-Interpretation, der zufolge die amerikanische Gender-Theoretikerin das Primat des Diskurses über die Materialität des Körpers behauptet, um ein Missverständnis handelt. Die "zugespitzte und verkürzte Kardinal-Frage", ob "'Körper nun etwas rein Diskursives' seien oder nicht", der die Gender-Forschung hierzulande in "zwei unversöhnliche Lager" aufteilt, sei so einfach falsch gestellt, moniert Wachter. Denn die irrige Interpretation, die "die dekonstruktive Untersuchung normativer Bedingungen und differentieller Kategorien", unter denen die "Materialität des Körpers gestaltet und gebildet" wird, mit der "Verwerfung oder gar der Negierung der Materialität von Körper" gleichsetzt, verkenne gerade Butlers eigentliches Anliegen: die Dekonstruktion der "dichotome[n] Anordnung der Affirmation beziehungsweise Negation" und der ihnen zugeordneten Begriffspaare. Dass Körper materiell sind, sei auch für Butler eine "unproblematische Behauptung", jedoch lasse sich ihr zufolge der Materialisierungsprozess von Körpern "nicht unabhängig von der Signifikation der sie regulierenden Normen denken", die "die Effekte von unveränderlich gegebenen Körperlichkeiten" produzieren.

Darauf zu insistieren ist ein erster Verdienst des Buches. Oft gelingt es der Autorin, Butlers zentrale Argumentationsstrukturen, Theorien und Thesen deutlicher hervortreten zu lassen als dieser selbst. Eigene, über Butler hinausweisende Thesen Wachters sucht man jedoch - weitgehend - vergeblich. Doch wenn es ihr gelänge, die liebgewonnen Missverständnisse der Körpertheoretikerinnen, denen sie gehörig zu Leibe rückt, etwas zu relativeren, so wäre schon viel gewonnen.

Wachters zweiter Verdienst liegt in einer weiteren wichtigen Klarstellung: So interessant die von Gesa Lindemann in den Gender-Diskurs eingebrachte Leib/Körper-Unterscheidung Helmuth Plessners auch sein mag, Butlers Argumentationslinien bleiben von ihr unbetroffen, denn "physiologische Vorgänge oder die haptischen Dimensionen der Leiberlebnisse" werden aufgrund ihres "genealogisch ausgerichteten Analyseinteresses" von Butler gar nicht thematisiert, also "weder geleugnet noch negiert".

Verdienst Nummer drei besteht in der Kritik der Kritik der Akademisierung der Frauenbewegung zur Gender-Forschung. Der "Vorwurf des Rückzug in den universitären Rahmen" ignoriere, "dass auch akademisch-wissenschaftliche Diskurse gleichsam Effekte und Instrumente sogenannter politischer Auseinandersetzungen darstellen". Hierbei verkennt die Autorin ihrerseits allerdings nicht, dass "auf Repräsentationspolitik [...] in der Tat nicht verzichtet werden" kann. Eine Einsicht, die natürlich auch Butler teilt, deren Ziel daher durchaus nicht der vollständige Verzicht auf "die Kategorie 'Frau/en'" ist. "In einer doppelten Geste der Umwertung und Verschiebung der hierarchisch strukturierten Zweigeschlechtlichkeit" sei diese Kategorie bei Butler vielmehr "wieder eingesetzt", und zwar zum einen als "identitätsstiftende Kategorie für notwendige gesellschaftliche Forderungen", und zum anderen als Begriff, der in das hierarchische Geschlechterverhältnis "eingreift, um es zu verschieben". Das zentrale Interesse einer "dekonstruktiv orientierten Gender-Forschung" besteht allerdings nicht darin, "die verbindenden Gemeinsamkeiten von 'Frauen' zu eruieren und festzulegen", sondern vielmehr darin, jegliche Normen ",wie 'Frauen' sein sollen" zurückzuweisen.

Im gesamten Verlauf ihrer Erörterung vermeidet Wachter konsequent die substantivierte Form "Dekonstruktion" und verwendet stattdessen den von ihr vorgeschlagenen Begriff "dekonstruktive Reflexionsarbeit". Hiermit will sie deutlich machen, "dass dekonstruktive Analysen sich in Form jeweils verschiedener und vielfältiger Lektürehinsichten manifestieren, worin auch widersprüchliche oder paradoxe Momente zum Tragen kommen können". In dem von Wachter geprägten Terminus liegt ein nicht gering zu schätzender innovativer Beitrag zur dekonstruktiven Reflexionsarbeit.

Ein wesentliches Anliegen ihrer Untersuchung "galt dem Aufweis, dass die dekonstruktive Reflexionsarbeit notwendig bleibt, sowohl für die Gender-Forschung als auch für Forschungsrichtungen anderer Disziplinen". Er ist ihr mit Bravour gelungen.

Titelbild

Nicole Wachter: Interferenzen. Zur Relevanz dekonstruktiver Reflexionsansätze für die Gendner-Forschung, anhand von Texten Judith Butlers.
Passagen Verlag, Wien 2001.
218 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 3851655060

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