Plötzliche und heillose Bangigkeit

In Klaus Merz' Erzählband beeindruckt vor allem die Leichtigkeit seiner Worte

Von Johanna BackesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Backes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grandios eröffnet Klaus Merz seinen Erzählband "Adams Kostüm". Die erste der drei Erzählungen beginnt so: "Gegen fünf in der Frühe war er daheim vom Dach gestiegen und wollte leben. Aber seine Familie traute ihm schon nicht mehr über den Weg. Er bat noch ein paarmal um Entschuldigung für den Aufruhr, sprach von einer plötzlichen und heillosen Bangigkeit, die ihn heimgesucht habe beim Gedanken an das alte Flachdach, die Risse im Asphalt über den Köpfen. Dann ließ er das Reden, die Erklärungen bleiben."

Dieser erste Absatz in "Fast Nacht" ist das Glanzlicht in dem schmalen Band. Merz' Worte bleiben leicht und doch ganz nah am Bild. Kern, der sich erst im letzten Moment gegen Suizid entscheidet, verlässt seine Familie und zieht sich in eine Klinik zurück. Dort trifft er auf die Erzählerin dieser Geschichte, Ann, seine Ärztin. Sie beschreibt sein Verhalten "heroben". In dieser gemeinsamen Zeit kommen sich Ärztin und Patient durch Gespräche näher. Die Gefühle deutet Merz jedoch erst am Ende an. Hier spricht Kern seine Ärztin namentlich an, hier verkehrt sich ihr Verhältnis. Jetzt ist es Kern, der Ann "nicht heilen" kann, denn er muss zurückkehren in sein Leben.

Der Rückzug aus dem Leben in eine andere Welt erinnert an Thomas Manns "Zauberberg". Hier wie dort tritt der Protagonist aus seiner Alltagswelt in eine Welt mit eigenen Regeln, Möglichkeiten und Wahrheiten ein. Bei allen offensichtlichen Unterschieden bleibt eines beiden Texten gemeinsam: Die Geschichten und deren Peronen folgen einer anderen Logiken, als der Alltag für sie vorsah. Damit gewinnt der Titel "Fast Nacht" in Merz' Erzählung seinen hinweisenden Charakter auf das eigentlich Entscheidende, auf das nicht Ausgesprochene. Das Ende der Fastnacht ist das Ende für Kern und Ann, von denen man eigentlich nicht als 'Kern und Ann' sprechen kann, sondern eben nur 'fast' und nur heroben im Abseits.

Die Idee des augenblicksweisen Ausstiegs aus dem Leben nutzt der Autor zur zarten Beschreibung der Annäherung zweier Menschen. Aus ihren zögerlichen Banden entspringt eine eigene traumhafte Welt. Gekonnt verbindet Merz eine abbildhafte Beschreibung mit dem nur Angedeuteten. So dicht wie im ersten Absatz wird seine Sprache jedoch nicht immer und auch inhaltlich scheint der Beginn losgelöst von der weiteren Erzählung.

In der zweiten Erzählung "Adams Kostüm" wird die Geschichte einer Schulklasse geschildert, in deren Mittelpunkt Evelin, ihr Vater und deren Geliebte stehen. Evelin heißt ursprünglich Eveline. Das E legt sie jedoch ab, als ihre französische Mutter sie und ihren Vater verlässt und nach Frankreich zurückkehrt.

In "Adams Kostüm" werden lakonisch Liebes- und Lebensgeschichten erzählt. Geschichten, in denen sich immer wieder Glück und Traurigkeit verbinden. Die von Menschen, statt von Helden handeln. Dass das Leben immer wieder Glück und Unglück in einem ist, drückt Merz vollendet in zwei kleinen Sätzen aus: "Er war frei. Und von allen verlassen." Ganz unspektakulär eröffnet der Schweizer seinem Leser hier das ganze Leben von Adam: sein Außenseitertum, den Selbstmord seines Vaters, die Trennung von der geliebten Evelin, seine Flucht aus der Besserungsanstalt. Ein Leben - frei und verlassen.

Und doch bleibt am Ende die Hoffnung und nicht die Verzweiflung. Die Erzählung schließt wie sie beginnt: mit einem Maskenball. Adam kehrt zu Evelin und ihrer gemeinsamen Tochter Sandra-Melanie zurück. Liebe, die dem Leben standhält. Spätestens hier verbinden sich die Aussagen seiner Erzählungen mit dem als Motto gesetzten Kafka-Zitat: "Das Glück begreifen, dass der Boden, auf dem du stehst, nicht grösser sein kann, als die zwei Füsse, die ihn bedecken".

Seine dritte Erzählung beginnt Merz wieder mit einem Sprachspiel. "Zugzwang. Eine kurze Verstiegenheit" entblättert schon alle Momente, die die Situation der folgenden, sehr knappen Erzählung ausmachen. Leute sind in einen Zug gestiegen, dort sitzen sie und innerhalb dieser Zwangsgemeinschaft entwickelt sich ein Gespräch, an dessen Ende sich ein Mann zu einer Einladung versteigt, die Frau verschiebt ihre Anwort auf das Ende des Tunnels, sie gerät in Zugzwang auf diese Verstiegenheit zu reagieren.

Die Antwort bleibt der Autor seinem Leser schuldig. Das Schweigen am Ende entspricht der Erzählhaltung des Schweizers. Ohne erhobenen Zeigefinger und ohne Handlungsanweisung schreibt er von den Kuriositäten menschlichen Seins. Liebevoll entwickelt er Geschichten für Figuren, deren Kraft alles andere als vordergründig ist. Sie wachsen und leben durch ihr Scheitern und durch ihre Fähigkeit, bei allen Wendungen des Schicksals nie hoffnungslos zu wirken. Diese Botschaft wirkt ebenso nachhaltig auf den Leser wie Merz' Worte an sich. Man ist gewillt auf viele Stellen einen zweiten Blick zu werfen, nicht ohne immer wieder Neues zu entdecken, Neuem zu verfallen.

Titelbild

Klaus Merz: Adams Kostüm. Drei Erzählungen.
Haymon Verlag, Innsbruck 2001.
96 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3852183618

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