Wer war Gotthold Ephraim Lessing?

Willi Jaspers Biographie lässt viele Fragen unbeantwortet

Von Sonja SakolowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Sakolowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Biograph muss - wie schon die Physiognomiker des 18. Jahrhunderts wussten - ,die Fertigkeit' erwerben, ,durch das Äußerliche eines Menschen sein Inneres zu erkennen'". Mit dieser Einsicht beginnt sehr viel versprechend die umfangreiche Lessing-Biographie von Willi Jasper, doch der Forderung Lavaters, der hier zitiert wird, kommt der Autor nur sehr unzureichend nach.

Der Literaturwissenschaftler und Publizist Jasper wird uns im Klappentext als intimer Kenner der Lessing-Forschung und -Überlieferung vorgestellt, und dies wird bei der Lektüre der Biographie zunächst auch durchaus bestätigt: Zahlreiche Exkurse zur Gesellschaft und Kultur des 18. Jahrhunderts, kenntnisreiche Erläuterungen zur geistigen Erneuerungsbewegung, der Aufklärung, sollen dem interessierten Laien, an den sich die Biographie wendet, das "Zeitalter der Kritik" (Kant) und einen seiner wichtigsten Vetreter in Deutschland nahe bringen. Der Autor ist darüber hinaus sichtlich darum bemüht, neutral zu bleiben und alle ideologischen Vereinnahmungen sowie tendenziösen Deutungen, die die Person Lessings in mehr als zweihundert Jahren Rezeption provoziert hat, zu vermeiden. Doch Jaspers gutgemeinte Tendenzlosigkeit führt zwangsläufig zu einer gewissen Farblosigkeit der Darstellung.

Vor lauter Sorge darum, dem Leser möglicherweise ein falsches (weil subjektives) und einseitiges Bild Lessings zu vermitteln, weigert sich Jasper in seiner Biographie grundsätzlich, die Ereignisse im Leben des Dichters und Aufklärers in irgendeiner Weise zu deuten. Die Beweggründe und Motive des widersprüchlichen Autors werden als grundsätzlich Geheimnis dargestellt, das sich jeglicher Analyse entzieht. Es ist zugegebenermaßen immer ein heikles Unterfangen, die Handlungen einer historischen Person im nachhinein zu deuten oder ihr eine bestimmte Motivation zu unterstellen, über die man letztlich nur mutmaßen kann. Doch wer sich anschickt, die Biographie einer solch ambivalenten Persönlichkeit wie die Lessings zu verfassen, der muss sich zumindest heuristisch dieser Problematik stellen.

Jasper hat in seiner Biographie die unterschiedlichsten Facetten und Widersprüche in Lessings Leben angesprochen und thematisiert. Er erkennt ganz richtig die Ambivalenz des Dichters, der einerseits seiner Spielleidenschaft frönte und andererseits die beißendsten Kritiken im Namen der Vernunft verfasste. Der Autor behandelt Lessings Freundschaft mit Mendelssohn und Nicolai in Berlin und seine plötzliche, scheinbar unmotivierte Abreise nach Breslau, wo er in den Diensten des preußischen Generals Tauentzien den Siebenjährigen Krieg miterlebte. All das wird von Jasper dargestellt, vielfach ergänzt von biographischen Hinweisen oder erläuternden Briefzitaten. Doch das Wichtigste folgt diesen Beschreibungen nicht, nämlich eine Erklärung dieses Verhaltens, oder doch zumindest der Versuch einer Erklärung, der uns Lessing näherbringen könnte. Warum verließ der erfolgreiche Kritiker 1760 urplötzlich Berlin und ließ seine Freunde ratlos zurück? Wieso verschob der Bräutigam immer wieder die Heirat mit Eva König und welche Rolle spielte dabei die von ihm verehrte Witwe des Orientalisten Reiske? Woran scheiterte das Projekt eines Selbstverlages zusammen mit J. J. Chr. Bode in Hamburg tatsächlich? Oder schließlich in summa formuliert: Wer war Gotthold Ephraim Lessing?

Es ist selbstverständlich, dass ein Biograph nicht jede dieser Fragen klären kann. Aber Jasper versucht es nicht einmal und lässt somit die Chance verstreichen, den schmalen Grat zwischen historistischer Klitterung und jener anthropologischen Leere zu reflektieren, die dann zurückbleibt, wenn ein Mensch ohne Subjektivität zu agieren scheint. Stattdessen vertröstet er uns mit den Lebensgeschichten von Personen, die nur am Rande Lessings Lebensbahnen gekreuzt haben oder füllt die Seiten mit Kommentaren von Dramaturgen, Publizisten und Kritikern, die zwar die Inszenierungsgeschichte Lessing'scher Dramen im 20. Jahrhundert erhellen, aber nicht den Dichter verstehen helfen. Stellenweise erinnert Jaspers Biographie solchermaßen mehr an die Feuilletons deutscher Tageszeitungen. So darf es auch nicht verwundern, daß man im Register des Buches beispielsweise drei Seitenangaben zu Marcel Reich-Ranicki findet, aber keine einzige zu Philipp Erasmus Reich, dem Verlegermagnaten, der bei Lessings Hamburger Verlags-Versuch einen nicht unbedeutenden Beitrag zum Scheitern des Projekts geleistet hat.

Jasper geht bei seiner Lebensbeschreibung nicht streng chronologisch vor, so dass man sich zumindest aus den bloßen Fakten ein Bild von Lessing machen könnte. Er handelt dessen Leben vielmehr gesondert nach Themen und Motiven ab: Die ersten Kapitel widmen sich Lessings Verhältnis zu den Frauen, weitere Abschnitte behandeln dann das Reisen und die "Dialektik der Aufklärung". Diese Vorgehensweise erzeugt beim Leser jedoch den Eindruck, ein Stückwerk vor sich zu haben, eine Ansammlung feuilletonistischer Artikel zu lesen, die thematisch nur lose durch ihren mehr oder weniger starken Bezug auf Lessing zusammengehalten werden. Doch dessen Persönlichkeit ist nicht immer das verbindende Element: Mehr als fünfzig Seiten - einen eigenen Komplex, in dem Lessing nur am Rande erscheint - widmet Jasper Moses Mendelssohn. Eine solche Ausführlichkeit scheint zwar durch die Freundschaft berechtigt zu sein, die beide Männer miteinander verband, aber die Entfernung vom eigentlichen Thema lässt diesen Exkurs unverhältnismäßig ausführlich wirken. In einem weiteren langen Abschnitt, der auf den ersten Blick die Entstehungsumstände des "Nathan" behandelt, verliert sich der Autor schon bald in einem publizistischen Gedankenspiel über den Ursprung der "Tragik deutscher Sonderart und deutschen Sonderschicksals".

Die Biographie schließt abrupt mit der nüchternen Konstatierung des Ablebens des Dichters im Jahre 1781. Man legt das Buch mit dem Gefühl beiseite, Lessing nicht näher gekommen zu sein: Nicht dem Kritiker, nicht dem Aufklärer und nicht dem Dichter. Die Lieblosigkeit, mit der hier sein Leben behandelt wird, zeigt sich beispielhaft in einer Schlampigkeit des Lektorats, die aus einem geistreichen Sinngedicht Lessings durch die Vertauschung des letzten Reimwortes "sein" eine völlig banale und witzlose Feststellung macht: "Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? Nein.Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen - werden."

Wo so sorglos und unaufmerksam zitiert wird, wie kann man da ein echtes Interesse am Thema unterstellen? Jaspers Ausführungen mögen intelligent sein und Fachwissen beweisen - von einer Begeisterung oder Liebe für Lessing zeugen sie nicht und können deswegen auch den Leser nicht für sich einnehmen.

Titelbild

Willi Jasper: Lessing. Aufklärer und Judenfreund. Biographie.
Propyläen Verlag (Ullstein), Berlin 2001.
470 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3549071469

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