Unzeitgemäße Betrachtungen

W. L. Bühl über das kollektive Unbewusste in der postmodernen Gesellschaft

Von Thomas KrummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Krumm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rede vom kollektiven Unbewussten hat im Zeitalter von Neuro-, System- und Cognitive Science keinen leichten Stand. Das Begriffsinstrumentarium des kollektiven Unbewussten wurde von C. G. Jung zu einer Zeit geprägt, in der man noch annahm, Soziologie als Kollektivpsychologie, sogar als kollektive Tiefenpsychologie betreiben zu können. Die Rede vom kollektiven Unbewussten indiziert aber auch eine Psychologie, die an den Grenzen ihrer eigenen individualpsychologischen Methoden laborierte. Manches Phänomen, das man in der Gründerzeit der Tiefenpsychologie dem kollektiven Unbewussten zuschrieb, würde man heute eher als soziale Formatierung des Psychischen oder als psychischen Differenzierungsprozess beschreiben. Bühl nimmt diese Tendenz auf, indem er Bewusstsein und Unbewusstes als sozialen Prozess beschreibt. Umso mutiger erscheint das Unternehmen, die moderne Gesellschaft mit den Begriffsinstrumenten des kollektiven Unbewussten zu beobachten und zu beschreiben. Das Ergebnis zeigt, wie strapazierfähig diese Begrifflichkeiten sind, aber auch, wie dünn ihre erkenntnistheoretische Fundierung ist.

Durch den Verzicht auf Einleitung und Schlusswort verzichtet Bühl leider auch darauf, die Absicht seiner Untersuchung, das theoretische Setting seiner Beobachtungen zu präzisieren. Statt dessen eröffnet er sogleich mit dem "Kult des Individuums", wie er uns z. B. in der Individualisierungsthese begegnet, und arbeitet sodann die Paradoxie von Individualisierung heraus: Er weist darauf hin, dass sich "überall allzeit alle ,individualisieren', dass sie aber alle doch massenhaft dem gleichen Weg folgen". Die Kehrseite der Individualisierung, die Vermassung und Kollektivierung, hat die Menschen fester denn je im Griff. Individualisierung und Vermassung sind zwei Seiten derselben Medaille. Bühl versucht, dieses Dilemma der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Beschreibungen durch die Reaktivierung des Jungschen "kollektiven Unbewussten" zu lösen. Dazu wird zunächst Individualisierung von Individuation unterschieden. Individualisierung wird als Illusion, als neuer Mythos bzw. Kult dekonstruiert. Der Suggestivgewalt kollektiver Bilder, Moden und Trends in der Folge des Individualisierungskults "kann man sich nur entziehen, wenn man sie ins individuelle Bewusstsein zu heben versucht". Das ist die Arbeit der Individuation, der Vereinzelung. Sie meint nicht das blinde Folgen einer Massenbewegung, sondern ein Differenzierungs- und Integrationsprozess des individuellen Denkens und Fühlens, der zu grösserer moralischer Reife und Differenziertheit des Urteilens führt und das Individuum in eine unbedingte, verpflichtende und unauflösbare Gemeinschaft mit der Welt versetzt. Individuation betont quasi die Sozialpflichtigkeit psychischer Differenzierung durch das mühsame Aufarbeiten des relationalen Gehaltes des Selbst, der Abhängigkeit von kollektiven, individuell unbewussten Bildern und Vorstellungen.

Bühl bleibt allerdings nicht bei einer Gegenüberstellung von individuellem Bewusstsein und kollektivem Unbewussten stehen. Die Semantik des kollektiven Unbewussten kann als Versuch verstanden werden, mit Instrumenten der Tiefenpsychologie Soziologie zu betreiben, die soziale, d. h. kollektive Eingebettetheit des individuellen Bewusstseins zu beschreiben. "A priori von einem unabhängigen individuellen Bewusstsein auszugehen, ist jedenfalls eine Vermessenheit des 19. Jahrhunderts. [...] Heute aber ist nicht mehr zu bestreiten, dass Unbewusstes und Bewusstsein eine untrennbare Einheit bilden" und die Beobachtung des Unbewussten zu einer Frage der Beobachtungsperspektive wird. Bühl sieht sehr wohl die Gefahr einer Substanzialisierung und Ontologisierung des Unbewussten und begegnet ihr durch einen konsequent relationistischen Standpunkt. Dass dieser aber kein Allheilmittel ist, sieht man bei seinem Umgang mit den (Rest-)Beständen der Kollektivpsychologie: "Das ganze Dilemma der Kollektivpsychologie scheint darin zu bestehen, dass mit den substanzialistischen Dichotomien von ,Bewusstsein' und ,Unbewusstem', ,Individuum' und ,Kollektiv' nichts mehr anzufangen ist. [...] Dieser dichotomische, einer zweiwertigen Logik folgende Ansatz einer statischen Kollektivpsychologie endet unweigerlich entweder in der Dämonisierung oder in der Entleerung der Kategorie des Kollektiven." Dennoch kann sich Bühl der Faszination dieser Kategorie kaum entziehen. Die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit dem "kollektiven Unbewussten" bleibt eine der schwächeren Leistungen dieser Untersuchung.

Dagegen gehört die Entfaltung eines zeitdiagnostischen Potenzials zu Bühls Stärken. Das Spektrum der von Bühl verhandelten Beispiele reicht von Kollektivphantasien nationaler Größe und Vormachtstellung über Aktionsphantasien und Terrorismus als verunglückte Adaption des Heldenarchetyps bis hin zur Ökologiebewegung und dem spezifischen "deutschen Schatten". Hier beschreibt er beispielsweise Pathologien des kollektiven Gedächtnisses nicht nur der Deutschen, sondern ganzer "Gedächtnisindustrien", die Erinnerung zu einer Art "periodischer Staatstheateraufführung" degenerieren lassen. Schräglagen der Selektivität von Gedächtnis können zur Usurpation von Geschichte für die politischen Interessen der Gegenwart oder zu deren Moralisierung zum Zwecke der Verurteilung führen. Kollektives Gedächtnis wird immer in der Gegenwart geformt und ist dabei entsprechenden Einflüssen ausgesetzt.

Am Beispiel von Terrorismus und charismatischer Herrschaft wird die Entstehung kollektiver Identität skizziert. Terroristen z. B. "sind zwar Gläubige und Vollstrecker des uralten Heldenmythos; aber sie gelangen in der Regel nur zu einer relativ archaischen Stufe des Helden", sie erliegen narzisstischen Allmachtsphantasien und der "Magie der Gewalt" und suchen schließlich Zuflucht in Märtyrerphantasien. Bühl illustriert die Mechanismen, mit denen sich Terrorgruppen autopoietisch zu schliessen versuchen, indem sie sich ihre Terrorziele in erster Linie für den Eigenbedarf aussuchen, ihre Opfer nach Publizitätswert messen und auf geheime oder öffentliche Sympathie und Unterstützung hoffen. Nach einer archaischen Logik stellt sich eine Symbiose zwischen Terrorismus und massenmedialer Kommunikation ein: "Die Terroristen glauben sich schon durch die Tatsache der öffentlichen Berichterstattung legitimiert." Die terroristischen Akte werden immer medienwirksamer inszeniert. Aus dem Schatten der Gesellschaft erfolgt ein grandioser öffentlicher Auftritt, bei dem der alltäglichen, erwartbaren Gewalt in der Gesellschaft eine erschreckende, unerwartete Gewalt gegenüber gestellt wird. Terrorismus funktioniert nur, wenn er die kollektiven Ängste anspricht und in Sympathisanten und Gegner polarisiert. Terrorismus ist für Bühl ein kollektives Schattenphänomen.

Aufschlussreich ist auch seine Verbindung der Ökologiebewegung mit einem kollektiven Angstgefühl um eine unumkehrbare Bedrohung der Natur. Bühl sieht hier eine "participation mystique" mit einer Form des Mutterarchetyps ("Mutter Natur") wirken. Ziel der Auseinandersetzung mit einem Archetypus ist die Überwindung des Ergriffenheits- bzw. Fasziniertheitsgefühls, seine Differenzierung und Rationalisierung. Konstellierte Archetypen üben eine enorme, irrationale Faszinationskraft aus, deren Wirkung das einzelne Bewusstsein in gelungener, d. h. kreativer, kulturfördernder Weise oder in sozialpathologischer Weise (z. B. als Fundamentalismus, Rigorismus usw.) verarbeiten kann.

Im abschliessenden Kapitel über die "Botschaft der Massenkommunikation" gelingt Bühl der Anschluss an den eingangs beschriebenen "Kult des Individuums", etwa wenn er die Paradoxien von Starkult, Moden oder öffentlicher Meinung aufdeckt.

Das Instrumentarium des kollektiven Unbewussten ist nicht zur Beobachtung moderner Gesellschaft entwickelt worden, sondern als psychoanalytische Theorie- und Therapietechnik. Es zeugt vom soziologischen Gespür Jungs, das Individuelle gerade auch im Hinblick auf seine soziale, kollektive Formatiertheit hin beobachtet zu haben. Bühl nimmt diese Fäden auf und versucht, sie für die Gesellschaftstheorie fruchtbar zu machen. Das Ergebnis zeichnet sich insbesondere durch seine aufschlussreichen und zeitdiagnostischen Detailstudien aus. Die innere Kohärenz der ganzen Untersuchung hätte sicherlich durch genauere Explizierung der Absichten des Verfassers erhöht werden können.

Titelbild

Walter Bühl: Das kollektive Unbewusste in der postmodernen Gesellschaft.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2000.
314 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3879407053

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