Klassikerin der Gegenwart

Über die lang ersehnte Werkausgabe zu Christa Wolf

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint ein regelrechtes Christa-Wolf-Jahr zu werden. Was auch immer man derzeit liest, der Name der Autorin fällt. Für ihr Lebenswerk wird Christa Wolf Ende März mit dem Deutschen-Bücher-Preis, der im Rahmen der diesjährigen Leipziger Buchmesse erstmals verliehen wird, ausgezeichnet. Wie kaum ein zweiter Schriftsteller habe die Autorin "die Schicksale der Menschen im geteilten Deutschland aufgegriffen und exemplarisch gestaltet", lautete die Begründung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der zusammen mit dem Freistaat Sachsen, der Stadt Leipzig und der Leipziger Messe GmbH den neuen Literaturpreis gestiftet hat. Die Juroren haben zweifelsohne Recht. Die Tatsache, dass diese Anerkennung der Autorin, die am 18. März ihren 73. Geburtstag feiert, beinahe zeitgleich einhergeht mit der Veröffentlichung einer Biografie von Jörg Magenau, die sie zwar nicht autorisiert hat, aber auch nicht verhindern konnte, mutet allerdings beinahe wie ein Nachruf noch zu Lebzeiten an. Zumindest scheint Christa Wolfs Status als - wenn auch umstrittene - "Klassikerin der Gegenwart" damit endgültig gefestigt zu sein. Der Wolfsche Hausverlag Luchterhand seinerseits hatte eine solche Würdigung bereits 1999, rechtzeitig zu ihrem 70. Geburtstag, mit der Herausgabe einer Werkausgabe eingeleitet. Seither erscheinen deren Bände verlässlich im halbjährigen Rhythmus. Inzwischen liegt die Ausgabe fast vollständig vor; Grund genug also für eine kritische Betrachtung von Autorin, Werk und Edition.

Christa Wolfs Leben kann exemplarisch als die Biografie einer deutschen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelesen werden, mit all ihren Brüchen und Verwicklungen. 1929 in Landsberg an der Warthe im heutigen Polen geboren, erlebt sie ihre Kindheit in der Zeit des Nationalsozialismus. Nach Kriegsende kommt der Neuanfang ihrer Familie in Thüringen und die Begegnung des Mädchens mit marxistischen Schriften. Als 20-Jährige tritt Christa Wolf in die SED ein, weil sie, wie viele ihrer Generation geschockt durch die Erkenntnis der NS-Verbrechen, "auf keinen Fall mehr etwas wollte, was dem Vergangenen ähnlich sein könnte". Als junge Frau ist sie von dem Ideal eines sozialistischen Staates überzeugt und voller Engagement für dessen Aufbau. Davon ist ihre Arbeit als Literaturkritikerin bestimmt, davon sind ihre ersten beiden Erzählungen geprägt. Doch schon bald folgt die Ernüchterung angesichts der starren Parteidoktrin. Die Utopie eines anderen, humanen Sozialismus bewahrt sie sich jedoch, wie viele Autoren, bis zum Ende der DDR.

Mit der Abwendung von der offiziellen Parteilinie einher geht Wolfs literarische Entwicklung. Die Loslösung vom Instrumentalisierungsversuch der Literatur im sozialistischen Realismus, der offiziellen Literaturdoktrin der kommunistischen Staaten, hin zu einer eigenen, subjektiv orientierten Poetik, war für Wolfs literarische Entwicklung entscheidend. Durch "Nachdenken über Christa T.", der Reflexion einer jungen Frau über den Krebstod einer Freundin, wird Wolf auch im Westen bekannt - und von der SED deshalb beargwöhnt. Mit dem Roman "Kindheitsmuster" nähert sie sich der eigenen, verdrängten Vergangenheit als begeistertes BDM-Mädchen. Sie schont sich selbst nicht und scheut sich auch nicht, anzuecken: "Ich kann nur über etwas schreiben, was mich beunruhigt." Wolfs Reinterpretation des antiken Kassandra-Mythos schließlich kann als Prophezeiung des Untergangs der DDR gelesen werden - und hat gleichwohl bis heute nichts von seiner zivilisationskritischen Aktualität eingebüßt.

Mit der politischen Wende 1989 kam allerdings auch die Wende in der Einschätzung von Christa Wolfs literarischem Werk. Bis dahin als nobelpreisverdächtig gehandelt und gelobt, wurde die Autorin im Laufe des so genannten "deutsch-deutschen Literaturstreits" schnell als "Staatsdichterin" betitelt und quasi vom Marmorsockel gestoßen, auf den man sie zuvor gestellt hatte. Von diesem Sturz hat sie sich in der öffentlichen Wertschätzung - zumindest im Westen Deutschlands - bis heute nicht völlig erholt. Auch in der Literaturwissenschaft, so scheint es. Sind die Aufsätze und Artikel zu ihrem wohl bekanntesten Werk "Kassandra" kaum zu überblicken, fiel die Resonanz auf ihren ersten Roman nach der Wiedervereinigung, "Medea" (1996), recht mager aus. Nur eine Handvoll Publikationen ist bislang dazu erschienen. Erst allmählich beginnt die Literaturwissenschaft wieder (im Unterschied zu dem noch immer ablehnenden Feuilleton), sich der Autorin zu nähern. Und dabei gäbe es hier spannende Fragen zu klären. Hätten sich nicht die Kritiker Wolfs und der DDR-Literatur, gar der engagierten Literatur allgemein, selbst zu prüfen, ob nicht auch ihre Rezeption dieser Werke stark selektiv erfolgte? Monika Papenfuß stellte in ihrer Dissertation zur Literaturkritik Christa Wolfs im Feuilleton zumindest fest, dass die Bewertung der Wolfschen Werke stets von tagesaktuellen Fragestellungen abhing. Es wäre also höchste Zeit für eine neue Rezeption von DDR-Literatur, die den üblichen "biographisch-politischen Kurzschluss" (Hans-Peter Ecker) reflektiert.

Eine einheitliche, zuverlässige Textgrundlage kann für eine solche, gegenwärtig ansatzweise in der Germanistik im Entstehen begriffene Neubewertung Christa Wolfs, nur förderlich sein. Aufgrund der Bedeutung Wolfs für die Literatur der Nachkriegszeit und der Vielzahl von Ausgaben ihrer Texte - Wolfs Werke gibt es bei dtv und Luchterhand, dazu kommen die diversen, mitunter zensierten DDR-Ausgaben und auch mal eine Reclam-Ausgabe - war eine Werkausgabe zweifellos überfällig und stellt damit mehr als nur eine geschmackvolle Leseausgabe (wohltuend dezent in schlichtem Grau gehalten) für die noch immer große, von aller Kritikerschelte unbeeindruckte Christa-Wolf-Fangemeinde dar. Auch der Verlag ist sich dessen eingedenk, hat er doch mit der Gesamtausgabe mehr als nur eine bibliophile Edition angekündigt: "bislang unveröffentlichtes Material zur Entstehungsgeschichte" werde in der Werkausgabe erschlossen und damit "neue Perspektiven auf das umfangreiche Œuvre der Autorin" geboten. Eine Fundgrube also?

Nach Sichtung der bereits erschienenen Bände ist der Eindruck eher zwiespältig. Angesichts des "umfangreichen Materials" zu Christa Wolfs Texten, auf das sich die Herausgeberin der Werkausgabe, die Literaturwissenschaftlerin Sonja Hilzinger, immer wieder beruft und das sich - derzeit für die Allgemeinheit unzugänglich - in der Stiftung Archiv der Akademie der Künste in Berlin befindet, bietet der Kommentarteil Hilzingers wohl höchstens ein paar Appetithäppchen. Den Hunger der Wolf-Forschung stillen diese aber nicht.

Natürlich gibt es auch sehr gelungene Bände. Die Verweise auf Tagebuchaufzeichnungen, Vorstufen und die Stoffgeschichte der einzelnen Werke (besonders ausführlich gezeigt am Text "Der geteilte Himmel", der ursprünglich als simple Brigadegeschichte geplant war) oder aber der Abdruck der mündlichen Fassung von "Kassandra", die Wolf bei den Frankfurter Poetik-Vorlesungen vortrug, sind dafür Beispiele. Auch die Veröffentlichung von verschiedenen Medea-Vorstufen ist sehr erhellend. Bei dem kleinen Erzählbändchen "Was bleibt", das mit seinem Erscheinen 1990 den Literaturstreit auslöste, hingegen wäre im Kommentarteil mehr als der Hinweis auf die Sekundärliteratur zur Debatte zu erwarten, zumal Hilzinger nach Einsicht in die bislang unbekannte erste Fassung von "Was bleibt" aus dem Jahr 1979 (das Archivmaterial belegt laut Hilzinger drei Überarbeitungsphasen) zu der Feststellung gelangt, dass Wolf in der veröffentlichten Fassung von 1989 nur noch "einige wenige stilistische Korrekturen" vorgenommen habe. Damit - und dies ist für die Wolf-Forschung wesentlich - begegnet sie einem entscheidenden Kritikpunkt der Rezensenten und Initiatoren des Streits um "Was bleibt": "Jedermann erkennt: dies alles sind Sätze des Jahres 1989, nicht des Jahres 1979", hatte beispielsweise der damalige "F.A.Z."-Literaturchef Frank Schirrmacher in seiner Abrechnung mit Wolfs "autoritärem Charakter" behauptet. "Das Archivmaterial ergibt eindeutig ein anderes Bild", stellt nun Hilzinger, mehr als zehn Jahre danach, richtig; der Vorwurf, Wolf habe den 1979 entstandenen Text auf die Erfordernisse der "Wende" hin überarbeitet, habe sich nachträglich zum Stasi-Opfer stilisiert, sei nicht länger haltbar. Hilzinger zitiert zum Beleg Anfang und Ende des ursprünglichen Textes von Juni/Juli 1979, die in der Tat der Druckfassung sehr ähneln. Vor dem Hintergrund der Bedeutung dieses kleinen Textes für die Wolf-Rezeption ist es allerdings unverständlich, warum diese Erstfassung nicht mit abgedruckt wurde. Nicht zuletzt hätte ein Textvergleich, etwa als Paralleldruck, die noch immer ausstehende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem umstrittenen Buch initiieren können, zu dem das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen ist.

Der Literaturstreit selbst und seine Folgen finden knappe Erwähnung im Kommentarteil des zuletzt erschienenen Bandes "Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1987-2000", der die Textsammlungen "Ansprachen", "Reden im Herbst", "Auf dem Weg nach Tabou" und "Hierzulande Andernorts" sowie neuere, allerdings nur sehr wenige unveröffentlichte, Artikel, bündelt. Lesenswert sind diese Texte zum einen als "Mit-Schrift einer bewegten Epoche", wie Hilzinger betont, als Dokumente des geschichtlichen Prozesses von Wende und Wiedervereinigung und deren Reflexion. Wolfs Äußerungen in Interviews, Essays und Reden, unter denen sich zugegebenermaßen auch mancher Auftragstext findet, machen aber stets auch die enge Verschränkung ihrer Lebensgeschichte mit ihren Erzählungen und Romanen deutlich. Dass die Essays dabei als elementarer Bestandteil des Organisationsprinzips des literarischen Werkes gelten können, wurde von der Autorin selbst in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen offengelegt und von literaturwissenschaftlicher Seite in einer Untersuchung von Sabine Eickenrodt expliziert. Auch Sonja Hilzinger, deren Christa-Wolf-Monographie bei Metzler erschienen ist, erläutert in ihrem Nachwort sorgfältig die Bedeutung dieser Schriften, die im Gesamtwerk Wolfs einen beachtlichen Raum einnehmen. Sonja Hilzingers Kommentarteil ist generell souverän verfasst. Die DDR-Literaturgeschichte als Folie der Interpretation reduziert die Autorin dabei glücklicherweise auf ein Minimum und setzt statt dessen bewusst die Akzente der Deutung auf Aspekte wie "Poetik des Alltags", Zivilisationskritik, Utopie, Autonomie oder Fiktionalität und autobiographische Motive. Eine weiterführende Auseinandersetzung mit Wolfs Werk, unabhängig von der Epoche der DDR-Literatur, erhält dadurch eine solide Grundlage.

Christa Wolf war sicherlich die bedeutendste Autorin der DDR. Auch nach der Wiedervereinigung hat sie neben zahlreichen Essays und Reden mit "Medea" einen großen Roman vorgelegt, dessen Vielschichtigkeit erst allmählich erkannt wird. Es gibt also noch viel zu tun. Die Werkausgabe gibt hierfür eine geeignete Textbasis, inhaltlich auch den einen oder anderen Anstoß für neue Forschungsperspektiven. Keineswegs aber werden damit alle Fragen beantwortet. Im Gegenteil. Dies besonders, da neue Texte Wolfs zu erwarten sind. Schon jetzt soll ein Band mehr als die ursprünglich geplanten zwölf erscheinen. Für Herbs nächsten Jahres sind die "Prosatexte 1981 - 2002" angekündigt. Die Ende Februar erschienene - und interessanterweise sehr wohlwollend aufgenommene - neue Erzählung "Leibhaftig" findet darin also noch ihren Platz. Christa Wolf allerdings arbeitet laut dem Journalisten und Wolf-Biografen Magenau längst wieder an einem großen Roman, der, so Magenau, "vielleicht so etwas wie eine Lebensbilanz sein wird." Wollen wir also hoffen, dass der Werkausgabe künftig noch der eine oder andere Band hinzugefügt werden muss.

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Christa Wolf: Werke in 13 Bänden.
Kommentiert und herausgegeben von Sonja Hilzinger.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000.
4000 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3630870600

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