Ins Unterirdische hinunter

Christa Wolf findet den Ort des Eigentlichen

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Krankheit als Grenzerfahrung und als politische Metapher, das zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk Christa Wolfs. In "Nachdenken über Christa T." scheint hinter der Leukämie der Schrifststellerfreundin der gesellschaftliche Hintergrund auf; in "Störfall" wird die Gehirnoperation des Bruders in Beziehung zur Tschernobyl-Katastrophe gesetzt. In ihrer neuen Erzählung "Leibhaftig" geht es um einen Blinddarmdurchbruch, und der Titel zeigt schon, dass die Erzählerin (Fiktion und Autobiographie sind wie immer bei Christa Wolf schwer zu trennen) beim Kampf mit den besonders bösartigen Erregern leibhaftig haftend etwas auszutragen hat, was sich eigentlich in ihrer Seele abspielt. Und diese Seele ist erschöpft vom Ringen der Schriftstellerin um Glaubwürdigkeit in der Endphase der DDR.

Trotz bester Behandlung durch die Ärzte will die Heilung nicht vonstatten gehen. Das Immunsystem bricht zusammen, die Patientin muss dreimal operiert werden, hohes Fieber jagt sie in Schüttelfrost und Alpträume, in denen immer wieder der alte Weggefährte Urban auftaucht. Von dem hat sie sich inzwischen distanziert, weil er "alles mitmachte und auch in Zukunft alles mitmachen würde": "Denn allmählich hatte sich die Einsicht herausgeschält, daß man nur entweder sich selbst aufgeben konnte oder das, was sie ,die Sache' nannten." Urban wählt den Tod, die Erzählerin aber, nach ihrem wochenlangen "Purgatorium", widersteht dem Wunsch zur Selbstauflösung und ist bereit, wieder gesund zu werden.

Mit einer wunderbar geschmeidigen Prosa bewegt sich Christa Wolf durch die verschiedenen Zwischenreiche des Bewusstseins, durch die Bilder, die "zu sehen ich gezwungen werde, sobald der Regisseur auf meiner inneren Bühne ausgeschaltet ist." So wie sie auf der Liege ins Kellergeschoss des Krankenhauses gefahren wird, an der Pathologie vorbei in den OP, so gleitet das Bewusstsein wie auf Charons Fähre ins Unterirdische, zum "Ort des Eigentlichen", in die Kellerlabyrinthe unter ihrem Berliner Haus, in die Versorgungskanäle und Abhörsysteme, wo das Vergessene wartet in sich überlagernden Zeiten - Vergessenes aus der Kindheit im Dritten Reich, aus der Zeit der allgegenwärtigen Stasi.

Das zeitlose Schweben im Zwischenreich bietet nicht nur Erkenntnis, sondern auch Erholung für das "überanstrengte Gewissen". So hat diese Erzählung weniger Bedeutungsschwere als mancher andere Text von Christa Wolf. Die Neigung der Erzählerin zum Grübeln, zur Selbstbeobachtung und Selbstanklage, zum quälenden Ringen um Wahrhaftigkeit wird immer wieder in feiner Ironie zurechtgerückt. "Das ist jetzt einfach nicht der richtige Zeitpunkt, Ihre Irrtümer zu hätscheln", sagt die Führerin durch die Träume, die Anästhesistin Kora. Auch die Metaphernwelt der Erzählung wird - bis auf ein paar allzu offenkundige Analogien - mit leichter Hand gestaltet, und die Krankenbettperspektive schließt kleine satirische Spitzen nicht aus, zur mangelhaften Ausstattung des Krankenhauses etwa, wo die Plastehandschuhe nichts taugen und das lebensrettende Medikament mit Blaulicht aus dem Westen geholt werden muss. Die griechische Mythologie, Basis für Christa Wolfs Romane "Kassandra" und "Medea", formt mit Bildern des Übergangs (Hades, Orpheus) das Unbeschreibbare, im Persönlichen wie im Politischen, und macht es greifbar.

Für ihre exemplarische Darstellung der Menschen im geteilten Deutschland erhält Christa Wolf am 21. März 2002 den erstmals verliehenen Deutschen Bücherpreis.

Titelbild

Christa Wolf: Leibhaftig. Erzählung.
Luchterhand Literaturverlag, München 2002.
184 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3630871127

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