Der Bohème und die geopferte femme fragile

Jan Christian Metzlers Abhandlung über Weiblichkeit und Tod in Heinrich Manns Frühwerk

Von Julia-Charlotte BrauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia-Charlotte Brauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen 1892 und 1912 verbrachte Heinrich Mann viel Zeit in Norditalien. In malerischer Umgebung durchlebte er sowohl im Privaten, als auch was sein künstlerisches Schaffen anbelangt, seine Lehr- und Wanderjahre. Er las Hermann Bahr, Gabriele d'Annunzio und Friedrich Nietzsche, setzte sich mit den großen französischen Schriftstellern auseinander und gab gemeinsam mit seinem Bruder Thomas die völkische Monatschrift "Das XX. Jahrhundert" heraus, die Alfred Kantorowicz als beschämend antisemitische "Sackgasse" bezeichnete. Willi Jasper hat in seiner Biographie "Der Bruder Heinrich Mann" eindringlich dargestellt, wie der Autor in dieser Zeit unter seiner eigenen Lebensferne litt, während seine Romanfiguren den vollen Rausch des Lebens erfuhren. Das Verhältnis zur Schwester Carla trug erheblich zu Manns selbst erlebtem Konflikt zwischen Geist bzw. Leben und Kunst bei. Letztlich ist es die Lebensgefährtin Inés Schmied, die Heinrich Mann aus der Einsamkeit des Ästhetizismus zu befreien vermag und ihm bei der Überwindung der eigenen dilettantischen Lebensschwäche hilft.

Diese Entwicklung spiegelt sich in Heinrich Manns Frühwerk wieder. In den Novellen und Romanen dieser Schaffensperiode wimmelt es geradezu von skurrilen Künstlertypen, hysterischen Schauspielerinnen und geopferten Mädchen. Jan Christian Metzler untersucht in seinem Buch "Mir ward so seltsam kalt" den Motivkomplex Weiblichkeit und Tod in den Novellen "Ist sie's?", "Contessina", "Das Wunderbare", "Pippo Spano" und "Mnais" sowie in der Romantrilogie "Die Göttinnen". Er geht jedoch nicht vom biographischen Hintergrund aus, sondern bezieht die ausgewählten Texte auf den zeitgenössischen Diskurs des Ästhetizismus, demzufolge um die Jahrhundertwende bei der Darstellung eines weiblichen Todes die "Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben durchgespielt wird".

Nach Metzlers Darstellung ist Weiblichkeit in Manns frühen Texten immer als Allegorie zu lesen, die nicht nur Frauenfiguren, sondern auch eine als weiblich dargestellte Natur einschließt. Ausgehend von einer feministischen Literaturtheorie, die Weiblichkeit ohnehin nur als kulturelles Konstrukt versteht, sieht Metzler die Frauenfiguren in Manns frühen Texten ausschließlich als rhetorische, nicht als im fiktionalen Rahmen reale Figuren. Daraus ergibt sich seine Lesart, Frauen seien ein Symbol der Un-Ordnung innerhalb einer bürgerlich-männlichen Ordnung, die erst mit deren Tod bezwungen werden könne.

Interessant ist nun die Entwicklung der Todesarten, die die Künstler als Vertreter der männlichen Norm für ihre weiblichen Modelle wählen. Metzler stellt die Figuren sehr detailliert in ihrem intertextuellen Bezug zur kleinen Meerjungfrau und Ophelia, zur Kreatur des Pygmalion und als zeittypische Vertreterinnen der femme fragile, der Fee und des weiblichen Vampirs vor. Der Tod dieser Figuren steht in Manns frühesten Texten zunächst in einem rein ästhetizistischen, teils sogar noch unreflektierten Kontext; Metzler spricht hier von einer "Ästhetik des körperlosen Verschwindens". In einigen Novellen und in den "Göttinnen" wirkt das Sterben der Frauen und Mädchen dann bereits ambivalent, eine Hinterfragung des Topos zeichnet sich ab. Diese Entwicklung kulminiert in Manns Kritik am weiblichen Tod, die sich in der Form der Satire und "Zunahme von Körperlichkeit" äußert.

Problematisch ist Metzlers Versuch, zwischen Heinrich Manns Intention und der eigentlichen Aussage seiner Texte zu unterscheiden. Meiner Meinung nach unterschätzt Metzler bewusst Manns selbstreflexive Schreibweise, deren Botschaft der Autor unter anderem auch in Essays wie "Geist und Tat" und "Eine Freundschaft: Gustave Flaubert und George Sand" sowie in Briefen zum Ausdruck bringt. So wirkt Metzlers Arbeit passagenweise überinterpretiert. Hätte er darauf vertraut, die bearbeiteten Novellen und Romane in den biographischen Hintergrund einzuordnen, so wäre er nicht nur zu der Erkenntnis gelangt, dass Heinrich Mann in dieser Zeit eine kunstkritische Position erlangt hat. Bereits im späten Frühwerk ist die Tendenz spürbar, die Mann letztlich zu einer sozialkritischen, engagierten Literatur führt. Denn Heinrich Mann hat das Problem der Bildlichkeit und den sich dahinter verbergenden Inhalten sehr früh erkannt und in den Zusammenhang des allmählich aufkommenden Faschismus gestellt. So betreibt Metzler letztlich nur eine akribisch genaue Textanalyse, ohne jedoch das Frühwerk eines großen Autors in seinen Gesamtzusammenhang zu stellen.

Titelbild

Jan Christian Metzler: "Mir ward es seltsam kalt". Weiblichkeit und Tod in Heinrich Manns Frühwerk.
Argument Verlag, Hamburg 2000.
218 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 388619275X

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