Dresden als Aufgabe

Walter Kempowski dokumentiert den Februar 1945 in seinem eindrucksvollen Luftkriegsmosaik "Der rote Hahn"

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Seit langem bin ich besessen von der Aufgabe zu retten, was zu retten ist", schrieb Walter Kempowski 1993 im Vorwort zu"Das Echolot", seinem kollektiven Tagebuch: "ich habe nie etwas liegenlassen können, ich habe aufgesammelt, was zu bekommen war, und ich habe alles gesichtet und geordnet." Noch immer arbeitet Kempowski gleichsam wie Sisyphus an seinem Projekt, statt des Steines hat er es freilich mit kaum zu bewältigenden Papiermassen zu tun, die mittlerweile acht Bände füllen. Akribisch vereinigt Kempowski die unterschiedlichsten Materialien zu einer Polyphonie der Stimmen. Nie für die Öffentlichkeit gedachte Briefe und Tagebucheinträge der Unberühmten stehen neben schriftlichen Zeugnissen namhafter Zeitgenossen. Der Titel ist Programm: So wie das Echolot den Seefahrern dazu dient, die Entfernung des Schiffes zum Meeresgrund zu bestimmen, so will Kempowski die seelischen Untiefen vermessen, wie sie sich in den vorgefundenen autobiographischen Aufzeichnungen widerspiegeln. Der neueste Band "Der rote Hahn", den er nach diesem Prinzip vorlegt, fokussiert den 13. Februar 1945 und die vier darauf folgenden Tage (nur die ersten beiden waren schon im 1999 erschienenen vierten Band der "Fuga furiosa" nachzulesen). Hitler diktiert gerade sein Politisches Testament und salbadert von etwas, das er Rassenstolz nennt. Der Tagebuchschreiber Goebbels mokiert sich über die Konferenz von Jalta. Im Deutschen Rundfunk ist wie immer von elf bis zwölf Uhr vormittags die Sendung "Bunte Klänge" zu hören. Und am Abend des 13. Februar starten britische Lancasterbomber von südenglischen Fliegerhorsten aus in Richtung Dresden, jener bis dato größten bebauten Fläche, wie der Einsatzbefehl die Besatzungen aufklärte, "die noch nicht bombardiert wurde". Kempowskis Kompendium versammelt vor allem Dokumente, die von Überlebenden dieses verheerenden Luftangriffs stammen. Dem Bombardement fielen, so nimmt man heute an, etwa 35.000 Einwohner zum Opfer. Kempowski macht sich Dresden zur Aufgabe.

Freilich hat es schon vor Kempowski Archivare des Luftkriegs gegeben. In Hans Erich Nossacks "Der Untergang" über die Zerstörung Hamburgs im Juli 1943: "Ich habe viele Hunderte von denen gesprochen, die dabei gewesen sind, Männer und Frauen; was sie erzählten, wenn sie überhaupt davon sprechen, ist so unvorstellbar grauenhaft, daß es nicht zu begreifen ist, wie sie es bestehen konnten." Nossack wollte mit dem bereits im November 1943 abgeschlossenen Bericht Erinnerungsarbeit leisten und das Erlittene schonungslos an die folgenden Generationen weitergeben: "Ich fühle mich beauftragt, darüber Rechenschaft abzulegen. Es soll mich niemand fragen, warum ich so vermessen von einem Auftrag rede: ich kann ihm nicht darauf antworten. Ich habe das Gefühl, daß mir der Mund für alle Zeiten verschlossen bleiben würde, wenn ich nicht dies zuvor erledigte." Ähnlich wie Kempowski ging es dem ungeheuer weitsichtigen Nossack schon damals darum, möglichst viele Erfahrungen, freilich kanalisiert durch den Erzähler eines literarischen Textes, zu bewahren. Gerade im Durcheinander der Aussagen würde, so Nossack, "die Größe des Unglücks zur Gewißheit".

Dieses Muster ist für Kempowskis eindrucksvolle dokumentarische Anordnung konstitutiv. Schnelle, filmische Schnitte - die präsentierten Textteile sind von prägnanter Kürze - verleihen der Montage zudem einen Charakter, der sehr an Gert Ledigs sogartige Erzählweise seines Romans "Vergeltung" erinnert. Auch Kempowski stellt die unterschiedlichsten Perspektiven nebeneinander. Sie führen dem Leser Situationen vor Augen, die phänotypisch sind für den Luftkrieg: Zu den Schauplätzen gehört etwa der Keller, von dem kein Mensch weiß, ob er den erhofften Schutz bietet. Es ist auch der Ort, wo die Verschütteten bisweilen selbst über Leben und Tod entscheiden müssen: "Wer kann begreifen, daß man einen um Hilfe schreienden Menschen in Todesangst im Stich läßt? Es kann kaum Schlimmeres geben! Zu helfen war nicht, und in den nächsten Minuten wären wir mit erstickt. So war die Lebensangst der Kreatur stärker und wir stürzten wie irrsinnig dem Rettungsweg nach." Man sitzt aber auch mit im Cockpit der britischen Maschinen, die den Tod in Gestalt der Brand- und Sprengbomben vom Himmel schickten. In Ausschnitten des Funkverkehrs der "Royal Air Force" wird der Schlachtruf "Tally-ho!" laut und der sogenannte Masterbomber lobt die "ausgezeichnet" liegenden Abwürfe. Doch in das Triumphgeheul mischen sich auch die Töne jener Piloten, die ahnen, was am Boden vorsichgeht: "Der phantastische Schein aus 320 Kilometern Entfernung wurde immer heller, als wir uns dem Ziel näherten. Selbst in einer Höhe von 6.700 m konnten wir bei dem gespenstischen Schein der Flammen Einzelheiten erkennen, die wir nie zuvor gesehen hatten; zum erstenmal seit vielen Einsätzen fühlte ich Mitleid mit der Bevölkerung dort unten."

Dort unten fegte der Feuersturm "orkanartig schnell und mit dem fürchterlichen Schmatzen der fettgetränkten Schwaden" durch die Straßen. Von diesem Phänomen wird in all seiner kaum nachvollziehbaren Drastik erzählt, hier starb man nicht nach einer Todesart, die bereits erfunden war: "Mitten auf dem Weg lag ein dunkler, formloser Haufen, obenauf etwas mit langen Haaren; daran allein war zu erkennen, daß dies eine tote Frau war. Mehr kann ich nicht beschreiben. Ich habe zwar hingesehen, mir aber die Bilder nicht eingeprägt." Es macht Kempowskis Auswahl plausibel, dass oft das Gesehene, eingebrannt ins optische Gedächtnis, letztlich dennoch an die Oberfläche dringt. In ihr werden aber auch akustische Schrecken erneut lebendig. Unisono erinnern sich die Zeugen an den Moment des ersten Vollalarms, an jenes "schauerliche Konzert der Warnsirenen". Eingesperrt im Bunker war man nicht mehr nur sprichwörtlich ganz Ohr, wenn es darum ging, die Geräusche der näherkommenden Bomben auf ihre Gefährlichkeit hin zu analysieren: "Manchmal beginnt das Rauschen im Hochton, hört in der Mittellage auf, und dann dauert es eine Weile bis man in der Ferne die Explosionen hört. Oft aber beginnt das Fauchen in der Mittellage, wird immer tiefer und endet mit berstendem Krachen nicht allzuweit entfernt. Und manchmal hört man nur einen kurzen, tiefen Orgelton, und dann zerreißt ein schreckliches Getöse einem fast das Trommelfell." Die Komponistin Aleida Montijn fand den Eindruck, den sie als homo audiens im unterirdischen Versteck gewonnen hatte, nach der Rückkehr ans Tageslicht bestätigt: "Es ist kaum zu beschreiben - genauso wie es in der Nacht geklungen hatte - so war jetzt der optische Eindruck. Totale Zerstörung."

Der erste Blick auf diese Zerstörung, so verdeutlichen die Dokumente, muss wie die Konfrontation mit einem urplötzlich aufgetauchten, gänzlich fremden Kontinent gewirkt haben. Alles ist, obwohl es doch vertraut sein sollte, völlig unbekannt. Die Straßen lassen sich nur noch mit größter Mühe erahnen: "Ich tastete mich noch einmal durch die Rauch- und Feuerhölle nach Hause zurück. Das Dach war völlig weggebrannt, ebenso der Holzfußboden. Das rotglühende Gerippe des Flügelrahmens schwelte im Sand, umgeben von den Pfützen der geschmolzenen Bronze-Gongs." Wie so viele Beschreibungen, die Kempowski präsentiert, stammt auch jene aus einer weiblichen Feder. "Alles, was Männer davon zu sagen wissen, ist Lüge", bemerkte Hans Erich Nossack zur Geschlechterdifferenz, die er in den mündlichen Berichten von Luftkriegsopfern ausgemacht haben will: "Nur in der Sprache der Frauen darf darüber geredet werden." In der Tat fällt bisweilen eine spezifisch weibliche Sichtweise auf. Die zumeist auf sich allein gestellten Frauen entwickelten im Inferno offensichtlich eine Art Überlebensreflex, etwa wenn es um die Frage ging, was aus der bereits brennenden Wohnung hinausgeschafft werden sollte: "Der Gedanke ,nur das Wichtigste für den Anfang' muß wohl direkt zur fixen Idee geworden sein, denn ich sehe mich noch vor dem Buffet stehen, förmlich abschiednehmend, und nahm nur wenige Bestecke heraus anstatt die ganzen Kästen mit Silber und Tischwäsche anzupacken."

Andere hatten diese Möglichkeit zu retten, was zu retten ist, nicht mehr. Kempowskis Auswahl registriert alle nur denkbaren Reaktionen der Entkommenen: Sie oszillieren zwischen den Polen Gleichgültigkeit und Verhaltensauffälligkeit. Alles, so erfährt man, spielte sich aber in einer merkwürdigen Ordnung ab. Selbst für eine bescheidene Form der Kommunikation war gesorgt: "Mit Kreide - die hatte man immer bei sich, um Nachrichten hinterlassen zu können - schrieb ich an die Fassade meines Wohnhauses: ,Gehe Richtung Westen. Aleida.'" Die Flüchtlingsströme, die aus der Stadt in westliche Richtung zogen, müssen freilich ein aberwitziges Bild abgegeben haben, machten sich die Lebenden doch meist in der Kleidung auf den Weg, die sie im Moment des ersten Angriffes am Leibe trugen: "Viele hatten nasse Decken über den Schultern, so waren sie durch die Flammen gerannt. Rußgeschwärzt waren sie alle. Groteske Gestalten in Harlekinkostümen oder Königinnengewändern, als Kammerkätzchen verkleidet oder in bunten Flitterkostümen gingen sie im Zug mit. Am 13. Februar war das größte Faschingsfest in Dresden." Solche Schilderungen legen nahe, daß die alliierten Bombenangriffe bei der deutschen Bevölkerung eine tiefe Schmerzensspur hinterlassen haben. Ein "zeitgenössisches Überlieferungsdefizit", von dem W. G. Sebald in seinen Aufsehen erregenden Züricher Vorlesungen "Luftkrieg und Literatur" (1997) gesprochen hat, lässt sich angesichts dieser fast 400 Seiten starken Dokumentation von publizierten und unpublizierten Materialien nicht bestätigen.

Durch den parallelisierenden Charakter seiner Kompilation stellt Kempowski darüber hinaus behutsam einen Konnex her, der bisher zu wenig Beachtung gefunden hat: den Zusammenhang von Luftkrieg und Holocaust. Sebald vertrat die These, dass es in Deutschland deshalb keine öffentliche Debatte um die zahllosen Opfer des "area bombings" gegeben habe, "weil ein Volk, das Millionen von Menschen in Lagern ermordet und zu Tode geschunden hatte, von den Siegermächten unmöglich Auskunft verlangen konnte über die militärpolitische Logik, die die Zerstörung der deutschen Städte diktierte". Gleichwohl hat es diese Diskussion gegeben. Nicht von ungefähr reagierte Karl Jaspers mit alliiertem Plazet in der berühmten Schrift "Die Schuldfrage" schon unmittelbar nach Kriegsende auf diesen Disput. In seinem aus dem Jahr 1962 stammenden Nachwort heißt es: "Trotz des Erschreckens etwa angesichts der absurden Zerstörung von Dresden und Würzburg sagte ich mir: Die Handlungen auf beiden Seiten können vielleicht nicht mit gleichem Maße gemessen werden. Die Bevölkerung, die ihre ganzen Kräfte einsetzt im Dienst eines Verbrecherstaates, kann nicht mehr auf Schonung rechnen." Jaspers verweist auf die Konzentrationslager und auf die Zerstörung von Rotterdam und Coventry durch die deutsche Luftwaffe. Besonders der Gedächtnisort Dresden aber steht für die nicht auf Anhieb erkennbaren Verbindungslinien zwischen Luftkrieg und Judenvernichtung. Victor Klemperer, einer der Hauptzeugen Kempowskis für die Zerstörung der Elbmetropole, hat in seiner "Lingua Tertii Imperii" darauf aufmerksam gemacht, dass der Tag des Angriffs für die Dresdner Juden noch eine ganz andere Bedeutung besaß: "Am Morgen des 13. Februar 1945 kam der Befehl, die letzten [...] zurückgebliebenen Sternträger zu evakuieren. Bisher vor der Deportation bewahrt, weil sie in Mischehe lebten, waren sie nun dem sicheren Ende verfallen; man mußte sie unterwegs abtun, denn Auschwitz war längst in Feindeshand und Theresienstadt aufs schwerste bedroht. Am Abend dieses 13. Februar brach die Katastrophe über Dresden herein: die Bomben fielen, die Häuser stürzten, der Phosphor strömte, die brennenden Balken krachten auf arische und nichtarische Köpfe, und derselbe Feuersturm riß Jud und Christ in den Tod; wen aber von den etwa 70 Sternträgern diese Nacht verschonte, dem bedeutete sie Errettung, denn im allgemeinen Chaos konnte er der Gestapo entkommen." Unverbesserlichen wie Hans Grimm war die von ihm so bezeichnete "Mordnacht von Dresden" Mitte der 50er Jahre Gegenstand der Anklage und Schuldzuweisung. Christian Geissler wehrte sich in Gestalt seiner Figur Klaus Köhler in dem Roman "Anfrage" (1960) gegen solche Aufrechnung: "Dresden ist erst das Ende einer Kette, der Anfang liegt bei uns." Kempowski aber geht es keineswegs, das Zitat stammt vom ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, "um Anklage oder Aufrechnung", wenn er den denkbar schrecklichsten Berichten, welche die deutschen Opfer des Luftkriegs beschreiben, direkt jene Erzählungen - etwa von Nico Rost - folgen lässt, die von der täglichen "Todesernte" in den Vernichtungslagern zeugen. Er zeigt vielmehr die Allgegenwart der humanen Katastrophe, unabhängig von einer Klassifikation in Täter und Opfer. Am deutlichsten und traurigsten zugleich wird dies bei der Leichenbeseitigung. In "Der rote Hahn" berichtet Prinz Ernst Heinrich von Sachsen, wie man die menschlichen Überreste nach dem Luftangriff zum Altmarkt schaffte, "wo sie in großen Stößen verbrannt wurden. Erst hatte man versucht, die Leichen in Massengräbern in der Jungen Heide zu beerdigen. Das erwies sich jedoch als viel zu langsam in Anbetracht der ungeheuren Zahl der Toten." Die aus Eisenbahnschienen für diese Zwecke provisorisch hergestellten Roste wurden übrigens von erfahrenen Fachleuten bedient, welche die SS zur Verfügung stellte: Sie hatten ihr "Handwerk" in Treblinka erlernt.

Woher auch immer Walter Kempowskis Rettungsauftrag herrühren mag, fest steht jedenfalls, dass seine Arbeit die zahlreichen Erinnerungstropfen in einer Art Gedächtnisspeicher auffängt, aus dem sich nunmehr schöpfen lässt. Vielleicht wiegt Kempowskis Pflicht, an kollektiv Erlebtes zu erinnern, sogar ähnlich schwer wie das Erlebnis selbst. Gerhart Hauptmann notierte am 17. Februar 1945: "Ich war berufen den Untergang meines geliebten Dresden zu erleben: Welche Aufgabe."

Titelbild

Walter Kempowski: Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945.
btb Verlag, München 2001.
380 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3442728428

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