Kindliches Geschwätz und phantasievolle Wortschöpfungen

Nicholson Baker erzählt "Nory Storys"

Von Ulrich SonnenscheinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Sonnenschein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gehört schon viel Mut dazu, wenn ein männlicher Autor seine Geschichte aus weiblicher Perspektive erzählt. Sich aber in ein 9-jähriges Mädchen zu verwandeln, ist nahezu halsbrecherisch. Die Identifikation des Autors mit einem Kind wird schon deshalb zum literarischen Problem, weil Wahrnehmung und Ausdruckskraft so wenig übereinstimmen. Nicht einmal Kinder interessiert es, wie Kinder über sich selbst sprechen. Und wenn ein Erwachsener die Geschichte eines Kindes erzählt, schwingen fast immer Belehrung, Erkenntnisgewinn und heimlicher Stolz mit, denn auch hier bedarf es des Besonderen, der außergewöhnlichen Begebenheit, um das Interesse zu wecken. Nicholson Bakers Buch "Norys Storys", nicht ohne Hintergedanken seiner Tochter Alice, seiner Informantin, gewidmet, ist auffallend anders als all die Romane, die ein kindliche Perspektive einnehmen oder Kindergeschichten erzählen. Baker wahrt zuerst einmal seine Distanz, indem er die Geschichte in der dritten Person erzählt. Doch niemand wird den Erzähler mit dem Autor verwechseln.

"In Venedig aß sie [scil. Nory] auch kohlschwarze Spaghetti. Das Schwarz war Tintenfischtinte und schmeckte ziemlich lecker. Vor langer Zeit machte man aus Tintenfischtinte richtige Tinte für mittelbreite Füllfederhalter, aber wahrscheinlich ergab das eine Tinte, die kein Tintenkiller killen würde. Tintenkiller wurden aus Schweinehaut und Schweineabfall gemacht, laut einem Mädchen aus der Threller Grundschule, das sagte, seine Schwester habe mal eine Tintenkillerfabrik besichtigt."

Hier spricht die kindliche Wahrnehmung mit den Worten Erwachsener. Das Medium Sprache wird vor allem in seiner Brückenfunktion bedeutsam. Sie ist weniger ein nur sich selbst verpflichtetes Kunstwerk, sondern mehr der Raum in dem Nory sich bewegt, mehr eine Art Mantel mit dem sie sich umkleidet. Indem Nory erzählt, eine anonyme Autorinstanz aufschreibt und wir lesen, erscheint Nory scheinbar unmittelbar als Person in dem Text. Sie wird weder nur beschrieben, noch ist sie die selbstbestimmte Erzählerin ihrer eigenen Geschichte. Vielmehr entsteht sie langsam und darin im höchsten Maße authentisch in einer Mischung von Innen und Außen. Dies ist kein Text über ein 9-jähriges Mädchen, aber er stammt auch nicht gänzlich von ihr. Weder der Informant, noch der Autor scheinen vollständige Kontrolle über die Worte zu haben, zwischen beiden aber entwickelt sich der Roman, der im Original mit "The everlasting Story of Nory" überschrieben ist, weil derartige Geschichten eben weder Anfang noch Ende haben, sondern meist dann abbrechen, wenn andere, bedeutendere Dinge geschehen. Und sei es, dass der Schlaf einen der beiden, den Erzähler oder den Zuhörer, übermannt. Ihr Vater schreibe Bücher, sagt Nory einmal und meint damit eine ganze Gattung von Literatur, die anderen Menschen beim Einschlafen helfen.

"Eines Abends sahen sie einen Pianisten im Fernsehen, Norys Mutter, Norys Vater und Nory, weil als Nory ihre Freundin Kira angerufen hatte, sagte die: Du musst dir unbedingt diesen großartigen Klavierwettbewerb ansehen. Littleguy spielte gerade mit James der roten Lok. Einer der Leute in dem Wettbewerb schlug das Klavier so hart an, daß er auf dem Daumenrücken einen roten Fleck bekam. Er war aus Jugoschlawien. Nory sah es und sagte: Er hat sich weh getan [...]. Es war traurig, an die Leute beim Wettbewerb zu denken, die ihr ganzes Leben lang so hart übten und dann trotzdem verloren."

In der fehlerhaften Syntax, der naiven Grammatik und den einfachen Worten steckt der kindliche Geist, den Nicholson Baker sucht und zu aller Überraschung auch findet. Sein Text ist eine Annäherung im Detail, eine Annäherung an die infantile Gefühlswelt, die in ihrer überragenden, jede Minute des kindlichen Lebens bestimmenden Größe aufscheint und doch nicht plakativ und überzeichnet wirkt. Das kleine Mädchen, das aus Amerika nach England kommt, dort in die Grundschule geht und eine Fremde bleibt, ist kein Stereotyp der universalen Kindheit. Ihre Geschichte ist eine spezifische, weil jede Form von Individualität auf besonderen Verkettungen von Ereignissen beruht. Doch damit ist es auch schon genug. Baker stattet Nory mit dem Wenigen aus, das nötig ist, um sich dann ganz auf die Erfahrungen zu konzentrieren, die wir alle in mehr oder weniger ähnlicher Form selbst gemacht haben, ohne dass wir uns so daran erinnern würden. Die Erinnerung ist nie unmittelbar, sondern immer auch von den Lenrprozessen geprägt, die zwischen dem Ereignis und seiner Rekonstruktion liegen. Die Rekonstruktion allerdings, ohne die Nicholson Baker auch hier nicht auskommt, ist die eines Kindes. Indem er die Form ganz behutsam reduziert, kindliches Denken in Literatur übersetzt, ohne sich ihm zu unterwerfen, kann er eine Geschichte erzählen, die sich nur wenig darum kümmern muss, ob es in ihrem Verlauf Höhepunkte gibt oder nicht. Die Geschichte des amerikanischen Mädchens Nory, das mit ihrem zweijährigen Bruder Littleguy und ihren Eltern für ein Schuljahr in die englische Stadt Threll kommt, dort in Pamela, einem von allen gehänselten Außenseiter, eine Freundin findet und erste eigene moralische Kategorien entwickelt, ist somit nur der Bodensatz für die Erfahrungen im Kleinen. Es sind nicht die großen Ereignisse, die im Leben eines Kindes die wichtigste Rolle spielen, sondern die Kleinigkeiten, die sich alltäglich wiederholen und von den Erwachsenen meist übersehen werden.

Was von den Erwachsenen ebenso übersehen wird, sind die Geschichten, die Kinder sich ausdenken und mit denen sie all die vielen unerklärlichen Eindrücke verarbeiten. Auch diesen Geschichten, die Nory erst sich selbst, dann ihren Puppen und schließlich ihren Freundinnen erzählt, gibt Nicholson Baker in seinem Roman breiten Raum.

"Ein andermal, auf dem Rückweg von Blickling Hall, erzählte Nory ihrer ganz kleinen Felicity-Puppe eine Geschichte. Die handelte dann am Ende von einem kleinen Bruder, weil ihr eigener Bruder Littleguy direkt neben ihr auf seinem Kindersitz saß, ganz versunken in seinen Schlaf. Die Geschichte war schaurig, aber nicht so schaurig wie die Geschichte vom brennenden Regen, die wahrscheinlich die schaurigste war, die sie je erzählt hatte."

Die litararische Anatomie, die Nicholson Baker betreibt, seit er mit seinem Roman "Rolltreppe oder die Herkunft der Dinge" 1986 die literarische Szene betrat, findet in "Norys Story" einen Höhepunkt. Damals versuchte er den Büroalltag ebenso indirekt zu fassen wie jetzt die Kindheit. Die Geschichte selbst war auch damals kaum wahrnehmbar. Sie handelte von einer Fahrt mit der Rolltreppe zum Lunch ins Zwischengeschoß eines Bürohauses, doch der Roman breitete eine Ansammlung all jener überflüssigen Dinge, die den Alltag bestimmen, vor uns aus und stand staunend vor den Rätseln, die das merkwürdige Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit uns immer wieder aufgibt. Auch da rückte das vermeintlich Nebensächliche kunstvoll in den Vordergrund. 1990 erschien mit sechs Jahren Verspätung sein erster Roman "Zimmertemperatur", der die meandernden Gedankengänge eines jungen Vaters spiegelt, der seiner Tochter gerade die Flasche gibt. Dies könnte eine frühe Begegnung mit Nory sein, die jedoch für den zweiten, den subjektiven Blick erst 9 Jahre alt werden musste. Doch die literarische Haltung der detailbesessenen Akribie hat Baker immer beibehalten, sie sukzessive verfeinert und in Bereiche ausgedehnt, die mit Tabus behaftet und einem ausweichenden Schweigen belegt sind. In seinen Romanen "Vox" und "Die Fermate", zwei Bücher die den Geheimnissen der erotischen Reize auf den Grund gehen wollen, richtet er es sich ebenso zwischen Innen und Außen ein. Immer wieder sind es die Details, nicht die Zusammenhänge, die Baker sucht, und darin den Leser in den Roman einbindet, weil nur bei ihm das ganze Bild entsteht. Baker will sich nicht auf die Beschreibung verlassen, weil er deren Eindeutigkeit ohnehin misstraut, sondern benutzt stattdessen die erzählerische Offenheit um die Dinge ganz subtil in der Sprache selbst entstehen lassen. Die Intimität ist ein Teil des literarischen Prozesses zwischen Autor und Leser. In der bloßen Behauptung findet die manchmal melancholische, dann wieder humorvolle Weltsicht die Baker vermittelt, keinen Raum. Es mangelt uns nicht an Eindeutigkeiten, vielmehr scheinen die Romane von Nicholson Baker uns nachhaltig auf das Vage, das Unfassbare hinweisen zu wollen, ohne dass das Leben eine im höchsten Maße langweilige Blaupause wäre. In der märchenhaften Welt der Kindheit, in die Lewis Carroll seine Alice schickte, um noch Jahrhunderte später Erwachsene zu erbauen, gibt es viele Fallstricke. Bakers Buch ist voll davon. Man muss acht geben, dass man nicht stolpert, oder sich auf der Suche nach dem roten Faden verirrt. Denn das Erzählerische, die spannende Geschichte verweigert er zugunsten eines kurzen, einmaligen Blickes in eine Kinderwelt, derer wir uns schon lange nicht mehr erinnern. Es ist fast unmöglich, diese Mischung aus Ernst, kindlichem Geschwätz und phantasievollen Wortschöpfungen oder Umdeutungen zu übersetzen. Eike Schönfeld, der bislang alle Romane von Nicholson Baker übersetzte, ist äußerst vorsichtig mit diesem Text umgegangen, so dass man sich oft wünscht er hätte etwas mehr gewagt. Doch die Stimmung des Romans trifft er auf bestechliche Weise. Und wer selbst Kinder hat, oder ihnen nur zuhört, wie sie sprachlich versuchen, sich die Welt anzueignen, der findet viel davon in "Norys Storys" wieder.

Titelbild

Nicholson Baker: Norys Storys. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
320 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3498006053

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